Tante Emma

Wer verschafft uns immer noch das schönste, persönlichste Kundenerlebnis? Wer macht den Unterschied zwischen „Standard“ und dem „Besonderen“? Und was heißt das für das Recruiting?

Letzten Freitag saß ich in der CRM Vorlesung des FIM an der Uni Augsburg. Referent war ein externer CRM Berater. Unter anderem sprach er vom komplexen Kundendatenmanagement, das selbst renommierte Markenhersteller nicht perfekt im Griff haben. Da kennt ein führender, sehr erfolgreicher Hersteller (keine Namen!) seine Kunden nicht. Weil die Vertriebsgesellschaft die Kundendaten wie ihren eigenen Schatz hütet und kaum transparent macht. Wer die Kundendaten hat, hat die Macht. Da berät ein Bankmitarbeiter seinen Kunden bzgl. eines Immobilienkredits. Und als das Geld dann auf dem Konto ist, ruft ein anderer Mitarbeiter den Kunden an und fragt, ob er eine Erbschaft gemacht hat – und mal über eine gute Geldanlage sprechen möchte. Nein, die sind nicht alle blöd! Aber oft zu weit weg vom Kunden. Auch, weil es zu viele Kunden sind. Und wir zu viele Daten haben. Was machen wir eigentlich damit? Wenig zielführendes, möchte man meinen.

Und dann, zum Ende des Vortrags, erzählt der Referent seine persönlichen Erlebnisse. Von der Bankmitarbeiterin, die schon seine Eltern betreut hat. Und die auch dann noch über ihn informiert war, als er schon längst umgezogen war. Und bei der er sich immer gut aufgehoben gefühlt hat. Der Kellner in Berlin, der beim dritten Besuch im Café schon von selbst den richtigen Tee bringt. Und natürlich gab es da den Tante Emma Laden, dessen Besitzerin seinen Standardeinkauf kannte und an die Milch erinnerte, wenn er die vergessen hatte. Und mir fielen selber einige Highlights dieser Art ein. Es sind einzelne Menschen, die den Unterschied machten oder machen. Sie verschaffen uns ein ganz besonderes Kundenerlebnis. Eins, an das wir gerne zurückdenken. Das uns ein Lächeln ins Gesicht zaubert (bei ganzheitlicher Betrachtung sei gesagt: Es gibt genauso viele, an die ich mich nicht gerne zurückerinnere …)

Wir können jetzt darüber streiten, ob er und ich nur den guten alten Zeiten hinterher trauern. Die Vergangenheit verklärt ja auch viel. Und warum die Tante Emma Zeit nie wieder kommt. Oder doch? Egal, das ist hier nicht das Thema. Tatsache ist: Der Mensch ist dem Computer immer noch hoch überlegen. Zumindest, solange es um die individuelle Interaktion mit seinesgleichen geht. Die Menge ist natürlich begrenzt. Wie viele Kundennamen kann sich Tante Emma merken? Ich weiß es nicht. Definitiv weniger als ein Computer. Aber die, die sie sich merkt, kann sie definitiv besser behandeln.

Recruiting oder CRM? Geht es immer nur um Massen?

Kommen wir zum Wesentlichen. Worum geht es im Recruiting?

Glaube ich den E-Recruitingsoftware Anbietern, den HR Beratungen und den in der HR Presse präsenten Konzernen, dann geht es um optimale Prozesse. Ja, mag sein. Solange es um den Umgang und die Bearbeitung von Datenmassen geht. Einige Beispiele, was ich meine?

Über Xing können Personaldienstleister/Recruiter mit der Recruitermitgliedschaft emails an Mitglieder versenden, die nicht ihre Xing Kontakte sind. 75 mails am Tag! Ich habe den Job jahrelang gemacht. Wenn Sie 75 emails am Tag „raushauen“ wollen, können Sie eine genaue Selektion und individuelle Ansprache vergessen. Wer auf Xing etwas präsenter ist, wird das bestätigen können. Für Massenemails aber perfekt. Viel Ausschuss, unzufriedene Empfänger … aber irgendwas wird schon hängen bleiben.

Recruiting oder CRM: Wo ist das Kundenerlebnis?

Ein Bewerber, der sich mit einer allgemeinen Anfrage über den offiziellen Bewerbungskanal an ein Unternehmen wendet, bekommt eine Eingangsbestätigung, dass seine Bewerbung nicht vollständig ist. Dabei wollte er sich doch gar nicht bewerben, er hatte nur eine Frage. Aber wem konnte er die stellen? Die Recruitingansprechpartner wurde von der homepage genommen, weil immer so viele Personaldienstleister angerufen haben …. Naja, ich gebe zu, da war ich wieder zu schnell und offenbare meine old school Denkweise. Ich vergaß: Für allgemeine Fragen steht mir doch das Social Media Recruiting Team auf der Facebook Fanpage und dem Twitter Kanal zur Verfügung. Richtig. Aber will ich, dass mein Chef oder meine Kollegen in Facebook im Zweifel sehen, dass ich dem SMR Team des Wettbewerbs eine Frage zu einem Jobangebot stelle?

In den Unternehmen werden Talentpools aufgebaut, die eigentlich nie wirklich passen. Entweder sind die Kriterien zu allgemein (dann werden die Pools zu groß und damit die Ansprachen eben genau das, „zu allgemein“) oder die Kriterien sind so speziell, dass sie einen Pool mit fünf Kandidaten haben. Das bringt mir dann auch nichts. Alles schon selber gehabt. Dazu kommt die Frage der Inhalte. Sie wissen ja, Content is King … Einmal im Jahr eine Geburtstagsmail ist dann auch nicht soooo toll. Und außerdem: Einigen Sie sich mal mit 10 anderen Kollegen auf Kriterien, wer in welchen Pool kommt. Da macht jeder bald sein eigenes Ding. Übrigens ganz menschlich: Wer die Daten hat, hat die Macht …

Und wenn dann mal eine Ansprachemail an einen Kandidaten aus dem Talentpool rausgeht und es meldet sich tatsächlich jemand, dann heißt das noch nicht, dass der zuständige Personaler mit der Antwort umgehen oder der Hiring Manager gerade jetzt auch ein Angebot (= Job) machen kann. Was passiert denn, wenn sich das Anforderungsprofil des Kandidaten geändert hat? Wird er dann aus dem Pool genommen? Und kommt er in einen neuen? Oder fällt er einfach raus? Oder telefoniere ich mal mit ihm? Da muss man sich Gedanken zu machen und sich kümmern! Wer macht das? Naja, wir haben es in Deutschland ja noch ganz gut. Im Zweifel werden die Daten eh nach sechs Monaten gelöscht.

Recruiting oder CRM: Es geht um Menschen!

Jetzt reden wir ja alle davon, dass wir irgendwann keine Massen an Bewerbern mehr haben werden.

Und überhaupt, die richtig Guten und für uns Perfekten gab es ja noch nie wie Sand am Meer. Was liegt da näher, als meine CRM Geheimwaffe wieder rauszuholen? Die Tante Emma. Jemand im Unternehmen, der die für ihn relevanten Bewerber wirklich kennt. Weil er persönlich (nicht ständig, aber immer mal wieder) mit ihnen in Kontakt ist. Der einen Unterschied machen kann, weil er als Mensch im Umgang mit Menschen einem System, einer Software meilenweit überlegen ist. Und der weiß, was in „seinem Laden abgeht“. Was er anbieten kann und was nicht. Der „Kundenbedürfnisse“ hört und wo sinnvoll, sein Sortiment ergänzt. Jemand, der autonom entscheiden kann. Auf den Punkt gebracht: It’s all about people!

Wir haben jede Menge Tante Emmas in den Unternehmen. Alle Recruiter oder Personalreferenten sind eigentlich in dieser Position. Aber viele sitzen im Shared Service Center und kennen ihren „Laden“ nicht. Und haben nichts zu entscheiden. Oder sie sind für so viele Fachbereiche und damit so viele Bewerber „zuständig“, dass sie ihre menschlichen Stärken nicht mehr ausspielen können. Dass sie nur noch mit Hilfe der Software Kandidaten verwalten. Auch ein Grund, warum Recruiter Recruitingdienstleister brauchen … Die Unternehmen haben ihr „HR Kundenerlebnis“ beerdigt. Daran ändert auch eine Präsenz auf Facebook nichts. Die „großen Namen“ kriegen ihre Kunden im Zweifel trotzdem noch. Weil sie so bekannt, so beliebt, so sicher oder so sexy sind. Oder weil sie einfach von ihrem jahrzehntelangen Image zehren. Vielleicht nicht mehr so schnell und auch nicht mehr alle, aber noch geht es. Aber wie lange noch?

Wie viel sind mir meine potentiellen Mitarbeiter wirklich wert? Wie viele Kandidaten lasse ich von einem Recruiter verwalten (oder direkt vom Hiring Manager betreuen??), bis ich mein Recruitingpersonal weiter aufstocke? Wir werden es sehen. Und verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte sehr viel von einer guten Unterstützung durch eine funktionierende und pfiffe Software. Ohne die geht es fast gar nicht. Außer vielleicht, Sie heißen Dieter Rickert. Aber den entscheidenden Unterschied macht immer noch den Mensch hinter, oder besser, vor dem System.

Irgendwann werde ich wieder in den Tante Emma Laden gehen. „Zwei … Schokoriesen bitte, Frau Lange“. Und den ersten, den steck ich mir wie immer gleich in den Mund.