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„Wir haben einen War for Talents“ – „Uns geht es um Persönlichkeiten!“ Als Leser meines blogs wissen Sie, dass ich bei diesen Aussagen von Management und HR mehr als skeptisch bin. Mir war bisher aber gar nicht bewusst, dass unsere Wirtschaftslenker so gut Goethe kennen! Dieser ließ seinen Zauberlehrling noch rufen „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“! Unsere Wirtschaft scheint dagegen offensichtlich fest entschlossen, diesen Fehler zu beherzigen – und die Geister(eswissenschaftler) gar nicht erst rein zu lassen. Zumindest drängt sich dieser subjektive Eindruck auf. (Übrigens: Der jüngeren Generation ist „Der Zauberlehrling“ wahrscheinlich nur als Rap bekannt. Es ist aber eine Ballade – und noch dazu von Achim Reichel viel besser vertont! Aber das nur am Rande). Zurück zum Thema: Wie komme ich zu diesem Eindruck?

War for Talents – mal mit Einblick aus der Praxis

Vor ein paar Tagen hatte mich eine junge Absolventin der Germanistik, Politikwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft auf Xing wiedergefunden und kontaktiert und ich fragte, wie es ihr so geht (unser letzter Kontakt war schon ein paar Monate her). Darauf bekam ich eine lange email und gestern haben wir kurz miteinander telefoniert. Ihre Situation: Sie verfügt über eine exzellente Ausbildung und diverse, fachlich sehr unterschiedliche Praktika bei renommierten Wirtschaftsadressen. Und – sie findet seit über einem Jahr keinen Job! Natürlich können wir alle nur mutmaßen, aber … sollte es an ihrem (falschem) Studium liegen?

Aber lesen Sie erst einmal selber, was sie schreibt. Nach Rücksprache mit ihr übrigens bewusst nicht anonymisiert. Die Hervorhebungen sind von mir.

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„Hallo Herr Zaborowski,

ich freue mich von Ihnen zu lesen.

Genau richtig, nach zahlreichen Interviews Anfang des Jahres brauchte ich zunächst einmal wieder eine Aufgabe, um mich „abzulenken“ bzw. die Zeit neue Motivation zu sammeln. Daher war ich von April bis Juli als Vertretungslehrerin an einer Gesamtschule beschäftigt. Eine herausfordernde Erfahrung – aber natürlich möchte ich gerne in der Wirtschaft unterkommen.

Seitdem bewerbe ich mich breiter und branchenübergreifender auf verschiedene Stellen – oftmals auch im PR und Kommunikationsbereich; eben genau den Fächern, die ich auch studiert habe. Aber der „Medienarbeitsmarkt“ scheint komplett überlaufen zu sein. Die größte Resonanz erhalte ich am Ende doch immer von den Beratungen.

Nach nunmehr 18 Gesprächen (inkl. unterschiedlicher Runden) in Deutschland, sehe ich meine berufliche Perspektive in der deutschen Wirtschaft eher problematisch. In der Regel schaffe ich es immer sehr weit, d.h. meist bis zur letzten Runde – gehöre letztendlich aber dann nicht zu den „Ausgewählten“. Ich habe bereits an diversen Bewerbercoachings teilgenommen, um die Ursache dafür zu finden. Meist wird mir dann aber suggeriert, dass ich allenfalls kleine Dinge an meiner Performanz verbessern kann, diese aber nicht ursächlich für eine Ablehnung verantwortlich sind. Bis heute weiß ich oftmals nicht, woran es im Grunde gelegen hat und was ich verbessern kann.

Ich habe eher das Gefühl, dass Geisteswissenschaften in den Unternehmen kaum Ernst genommen werden. Soweit BWL nicht auf dem CV steht, kann „BWL auch nicht drin“ sein. Eine vom Studium unabhängig-angeeignete wirtschaftliche Denke wird niemandem zugetraut. Dazu kommt, dass elitäre Business Schools und Unternehmensnamen ganz oben in jeder HR Abteilung mit rangieren und diese stets eine solide Universitätsausbildung dominieren.

Das alles ist insofern schade, da prinzipiell einer anderer gesellschaftlicher Diskurs vertreten wird. Immer wieder hört man von der „neuen Generation Y“, die sich durch fachunabhängige Leistung, Zielstrebigkeit und Leidenschaft für die Sache auszeichnet. Menschen die neue Herausforderungen angenommen und ausprobiert haben und dadurch von beruflicher Vielseitigkeit profitieren. Aus meiner Erfahrung heraus, lässt man aber in den HR-Abteilungen Kandidaten mit Brüchen im CV selten zu.

Ich möchte gerne in Deutschland arbeiten, aber aufgrund dieser Tatsachen bewerbe mich gerade intensiv im Ausland, um ggf. in einem anderen System eine Chance zu bekommen. Sollte ich dahingehend auch ohne Erfolg bleiben, strebe ich langfristig an, noch einmal zu studieren und einen Master in European Business an der ESCP zu machen, um den „Anforderungen in Deutschland gerecht zu werden“.

Vielleicht haben Sie noch Ideen oder Vorschläge, was man ggf. noch machen bzw. verbessern könnte?

Ich würde mich über eine Rückmeldung von Ihnen freuen.

Mit besten Grüßen

Franziska Müller“

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Ein Einzelschicksal? Ich weiß nicht. Frau Müller erwähnte im Telefonat ihre Kommilitonen, die ähnliches erleben. Manch einer arbeitet mittlerweile im Call Center. Nichts gegen den Beruf eines Call Center Agents, aber brauche ich dafür ein Studium? Jetzt weiß ich aus unabhängigen, zuverlässigen Quellen, dass an Frau Müller „nichts auszusetzen“ ist (wenn ich das mal so formulieren darf). Ihre Zeugnisse sind sehr gut, ihr persönlicher Auftritt ebenfalls. Was war in dem einen, mir bekannten Fall der Knackpunkt, warum sie trotz mehrerer Gespräche kein Jobangebot bekommen hat? Die Wahl und der Abschluss ihres Studiums – in Verbindung mit ihrer späten Erkenntnis, eigentlich jetzt was anderes machen zu wollen. Nämlich z. B. als Beraterin in die Strategie- und Managementberatung zu gehen.

War for Talents? Sicherheit geht vor!

Der Gedankengang auf Unternehmensseite ist folgender: „Hätte sie das nicht vorher wissen und dann gleich was Anständiges studieren können? So jemand ist komisch. Was ist, wenn sie in einem Jahr feststellt, dass Beratung doch nichts für sie ist? Oder sie es nicht kann? Hat ja schließlich nicht BWL oder so studiert. Dann will sie wieder was anderes machen. Das ist uns zu unsicher“.

Und ich vermute, so geht es vielen Unternehmensvertretern. Am Ende ist die Unsicherheit einfach zu groß. Was ist, wenn Frau Müller sich als Fehlgriff herausstellt? „War doch klar!“, werden dann alle sagen. Dann doch lieber die klassische Variante wählen und jemanden einstellen, der „von Anfang an wusste, was er wollte“. Naja, zumindest darf man das naiv unterstellen und sich in Sicherheit wiegen. Aber muss ich denn mit 17 oder 18 Jahren schon wissen, was ich mit 30 mal machen will? Ist das für die Mehrheit unserer Jugend realistisch? Im Leben nicht! Oder soll ich einfach das studieren, was der Mainstream mir vorgibt? Der ändert sich auch gerne mal, der Schweinebauchzyklus lässt grüßen. Da sind schon viele mit baden gegangen.

Nein, liebe Hiring Manager und liebe Erfüllungsgehilfen HR: So einfach dürft ihr es euch bald nicht mehr machen (was die Politik in dem Ganzen zu tun und zu sagen hat, ist noch mal ein anderes Thema). Schwierig finde ich es, wenn ein junger, top ausgebildeter Mensch mir sagt: „Dann muss ich es wohl im Ausland probieren. Wie ich von Kommilitonen erfahren, reicht da oft einfach die Tatsache, dass ich Deutsch spreche. Das fachliche kann man sich aneignen.“ Können wir uns diese Abwanderung leisten? Wenn ja, dann haben wir wohl auch keinen War for Talents! Und das Gerede von der Persönlichkeit, die zählt, und das man sich ja eh Fachwissen immer wieder neu aneignen muss, können wir auch getrost als inhaltsleeres Gelaber abhaken. Schade eigentlich, aber so sieht es wohl aus.

Zum Schluss möchte ich drei Dinge tun:

Zum Einen darauf hinweisen, dass ich mit meiner Kritik an den Unternehmen auch komplett daneben liegen kann! Vielleicht bewirbt Frau Müller sich einfach falsch, bohrt bei den Gesprächen in der Nase, fordert zu viel Geld oder schickt ihren Gesprächspartner Drohbriefe. Kann sein. Ich halte es für unwahrscheinlich, aber ich weiß es natürlich nicht. Aber ich wehre mich gegen den einfachsten Weg, die Schuld immer sofort beim Individuum zu suchen. Das hat mich bei so manchen Xing „Personaler / Bewerber-Gruppen“ schon immer aufgeregt (gruselige Foren, wenn Sie wirklich Hilfe suchen, nehmen Sie bloß Abstand davon). Außerdem kenne ich die Praxis und auch wenn Frau Müller bestimmt nicht ALLES richtig macht – so lange darf jemand wie sie eigentlich nicht ohne Job sein!

Zweitens die Frage stellen: Wenn der Lehrling es (noch) nicht kann und der mächtige Meister nicht will – wer führt unsere Wirtschaft dann in die neue Arbeitswelt? Wer mobilisiert all die brach liegenden „Ressourcen“, bestehend aus Eltern die nur Teilzeit können, Menschen mit Migrationshintergrund, mit einem schwierigen Start ins Leben, Ältere oder eben denen mit dem „falschen“ Studium? Wer, liebe Leser? Ich befürchte, dass müssen wir selber machen. Oder?

Und Drittens möchte ich hier auf das Xing Profil von Frau Müller hinweisen. Keine Sorge, das wird hier in Zukunft kein blog mit Einzelschicksalen oder eine Partnervermittlung. Und es ist eine Ausnahme und natürlich mit ihr abgesprochen. Aber vielleicht liest diesen Artikel ja jemand, der einen passenden Job für sie hat. Ich würde mich freuen – und sie sich auch. Und Sie werden sehen: Ihr Profil ist wirklich interessant!

In diesem Sinne – beste Grüße,

Ihr Henrik Zaborowski