Fachkräftemangel – wo ist er eigentlich? Er wurde zuletzt am Hafen gesehen! Gerüchte sagen, er fährt zur See … Nachdem ich ja schon einmal vom Leid der Geisteswissschaftler beim Berufseinsteig schrieb (Exoten in die Wirtschaft?), habe ich wieder einen Bericht aus der Praxis – aber diesmal von einem promovierten BWL’er! Damals schrieb ich „Die „Geister“ kommen nicht rein“. Jetzt muss ich ergänzen: „Jetzt kommen selbst promovierte BWL’er nicht mehr rein!“ Wenn Sie seine Geschichte lesen, können Sie eigentlich gar nichts mehr glauben. Vor allem nicht, dass es Unternehmen um Persönlichkeit geht und wir einen Fachkräftemangel haben. Falls Sie denken „Oh nein, Zaborowski, nicht schon wieder ein Recruiter-Bashing“ – keine Angst! Dieser Artikel gibt nur einen kleinen Ausschnitt der Realität wider. Und ich gebe Ihnen auch noch einen kleinen Gedankenanstoß mit.

Fachkräftemangel und Bewerberfluten

Am Wochenende war ich beim Mannheim Forum und lauschte den Diskussionen hochrangiger Personen wie Dr. Achleitner, Peer Steinbrück, Constanze Kurz oder Götz Werner zum Thema „Macht“. Ich hielt auch selber einen Vortrag über die „Bewerbung der Zukunft“. Und ich war auf einem lockeren Abendevent mit hunderten Studenten und unterhielt mich. Und was ich in diesen zwei Tagen von Studenten über ihre Bewerbungssituation hörte, war nicht schön. Und nicht schmeichelhaft. Und irgendwie bitter. Denn mir wurde klar, dass es für viele Absolventen eigentlich unfassbar ist, wie unprofessionell viele Unternehmen im Recruiting agieren. Und doch bleiben die Unternehmen oft die gefühlten „Sieger“ und die Bewerber suchen die Schuld bei sich. Dabei ist es genau anders herum. Von wegen Fachkräftemangel.

Ich unterhielt mich z. B. über eine Stunde mit einem BWL‘er, der kurz davor steht, seine Promotion abzuschließen. Alle Abschlüsse mit „1 Komma X“, diverse Auszeichnungen und Praktika. Er möchte in die Strategieberatung oder Strategieabteilung / Inhouse Beratung namhafter Konzerne. Eigentlich ein Selbstläufer. Sein Problem: Er hat für seine Promotion einiges länger gebraucht als der „Standarddoktorand“. Die Gründe sind nachvollziehbar (wenn man sich damit beschäftigt) und seine Promotionsleistung außergewöhnlich. Hier hat jemand intrinsisch motiviert promoviert und während der Zeit auch noch Nehmer- & Macherqualitäten gezeigt. Eine echte Persönlichkeit, definitiv! Was ist das Ergebnis? Er bekommt eine Absage nach der Nächsten. Beim Mannheim Forum ist er dann an die Stände einiger Unternehmen, die ihm abgesagt haben und hat sich mit den Unternehmensvertretern unterhalten. Und ihnen seinen Werdegang erklärt. Eine Personalerin hat ihn dann zur Seite genommen und ihm gesagt (jetzt in meinen Worten): „Wir ertrinken gerade in Bewerbungen. Und die meisten davon entsprechen dem Mainstream: Einser-Abschlüsse, relevante Praktika, zügiges Studium, nicht zu alt, Auslandserfahrung. Das suchen die Partner / Hiring Manager. Mit diesen Mainstream-Bewerbern vermeiden wir jedes Risiko. Sie dagegen sind ein Fragezeichen. Wir müssten uns richtig mit Ihnen beschäftigen. Das will / kann hier aber keiner. Warum auch? Es sind genug andere Bewerbungen da.“ Eine andere bot ihm an, nochmal seinen CV zu schicken. Sie könnte ihm dann vielleicht ein paar Tipps geben, wie er den so stricken muss, dass er eingeladen wird. Und gab selber zu: So richtig kann das alles nicht sein. Aber so ist es halt.

Bei einer großen Bank war er zum Vorstellungsgespräch für die Position des Vorstandsassistenten. Ihm gegenüber saßen zwei Personaler. Seine Fragen nach den inhaltlichen Themen konnten beide nicht beantworten – im Gegenteil, sie waren eher etwas irritiert über seine Fragen. Für ihn absolut verschenkte Zeit. Das war nicht sein Niveau. Die Absage kam natürlich sowieso. Bei einer großen Versicherung bekommt er auf seine Bewerbung mehrere Wochen kein Feedback, ans Telefon ging auch niemand, irgendwann kam eine anonyme Standardabsage. Eigentlich unfassbar! Ich schwankte an dem Abend zwischen Irritation, Belustigung und Fassungslosigkeit. Wie war das mit dem Fachkräftemangel?

Fachkräftemangel – oder einfach nur Arroganz & Dummheit?

Aber es geht ja nicht nur ihm so. Viele Absolventen / Studenten mit denen ich gesprochen habe, habe zum Teil grauenhafte Erfahrungen mit den Unternehmen gemacht. Dabei sind einige Stellschrauben ganz trivial zu bedienen. TalentsConnect hat beim Dialouge Career Day 2014 an der Uni Köln eine kleine Umfrage unter gut 300 Absolventen durchgeführt, die alle auf Jobsuche sind und schon ihre Erfahrungen mit den Bewerbungsprozessen gemacht haben. Auf die Frage „Was nervt Dich am Recruiting?“ waren folgende Antworten die Top 4:

  • Gar keine / zu späte Antwort auf meine Bewerbung.
  • Die Anforderungen sind unrealistisch.
  • Die meisten Stellenanzeigen lesen sich ähnlich.
  • Bewerbungsgespräche fühlen sich wie Small Talk an.

Na, liebe Unternehmen. Alleine der erste Punkt darf doch heute nicht mehr sein, oder? Das ist doch Recruiting-Grundschule 1. Klasse. Naja, und das Thema „Anforderungen“ … spätestens hier offenbart sich der Fachkräftemangel als Mythos. Und wir brauchen dafür gar nicht auf die Absolventen schielen, das geht auch auf anderem Niveau. Ich habe die Tage mit einer Researcherin telefoniert, die Top Manager für Konzerne und große Mittelständler sucht. Da wurde z. B. ein Geschäftsführer für eine Niederlassung in Tschechien gesucht. Neben dem ganzen fachlichen Profil, das schon sehr anspruchsvoll war, sollte er aus der Region Tschechiens kommen, aber in Deutschland ausgebildet worden sein und natürlich Deutsch sprechen. Noch besser wäre es, wenn seine Frau aus der Region in Tschechien kommt, weil dann das Risikos eines Wechsels noch geringer ist. Na, suchen Sie mal so jemanden … Ein anderes Beispiel: Ein Geschäftsführer für eine Niederlassung mit 40T Mitarbeitern in einem, für seine Unruhen bekannten, afrikanischen Staat. Alle fachlich passenden Kandidaten sprangen deswegen ab. Das Gehalt erreichte astronomische Höhen. Dann wurde jemand gefunden, der bereit war, das Risiko zu gehen. Der hatte zuletzt aber nur 20T Mitarbeiter geführt. Ergebnis: Das Unternehmen wollte ihn nicht.

Aber das nur als weiterer Ausflug in die Sphären des Recruitings. Kommen wir zurück zu den „echten“ Problemen. Der Erkenntnis, dass ganz banales Recruiting so schwer zu sein scheint. Und was mich richtig wurmt ist die Tatsache, dass die Bewerber die Unternehmen immer noch in Schutz nehmen! Die Tatsache, dass viele Unternehmen auf ihrer Karriereseite keinen Ansprechpartner nennen, wird z. B. als Test gedeutet. Die Bewerber sollen pro-aktiv den richtigen Ansprechpartner herausfinden, damit sie im Anschreiben nicht „Sehr geehrte Damen und Herren“ schreiben. Ein Test?! Nix Test! Das ist Dummheit, Arroganz oder Schutz vor lästigen Personaldienstleister. Und bitteschön, wenn wir wirklich einen Fachkräftemangel hätten – wer könnte sich solche „Tests“ denn noch erlauben?

Wissen Sie, was aus meiner humanistisch/idealistisch/realistischen Recruiterbrille der eigentliche Albtraum an der ganzen Geschichte ist? Dass der Bewerber denkt, er macht was falsch. Und tagelang darüber rätselt, wie er seinen CV so bauen kann, dass er so gut wie möglich nach Mainstream aussieht. Und die Unternehmen beruhigt sind. Oder klarer formuliert: Wie kann er die Unternehmen so hinters Licht führen und seine Persönlichkeit und seinen Werdegang so gut verstecken, dass nicht auffällt, dass er „anders“ ist (wobei er ja nicht anders ist als alle anderen auf der Welt auch). Und irgendwann zynisch wird. Zu Recht. Ist das bitter? Ja, das ist bitter.

 

Fachkräftemangel – und was Sie heute vor die Zukunft tun können!

Ok, ich hatte Ihnen versprochen, Ihnen eine kleine Handlungsempfehlung mitzugeben. Das mache ich jetzt auch. Und nehme dafür noch mal mein Beispiel vom promovierten BWL’ler, den keiner haben will. Jetzt mal im Ernst: So jemanden MUSS eigentlich jedes Unternehmen einladen. Oder? Selbst wenn Sie jetzt keinen Job für ihn haben. Oder sagen müssen: „Jung, Du bist überqualifiziert“. Aber sind Sie sich da wirklich sicher? Wissen Sie 100%ig, dass Sie so ein „brain“ nicht gebrauchen können? Selbst wenn das wirklich der Fall ist: Was ist in drei oder fünf Jahren? Vielleicht haben Sie dann einen Job für ihn? Wäre doch super, wenn Sie ihn heute schon kennenlernen, sich richtig professionell verhalten, mit ihm in Kontakt bleiben, ihm vielleicht ein wenig coachen, vielleicht einem Geschäftskontakt empfehlen?

Die ganz große Kür wäre deswegen nicht, eine Standardabsage zu schreiben, sondern zum Telefon zu greifen, ihn anzurufen und offen zu sagen: „Jung, wir können dich nicht einordnen. Wir wissen nicht, was wir mit dir machen sollen. Erklär noch mal genau, was du willst. Was deine Motivation ist. Hilf uns, dich zu verstehen.“ Boah, was wäre das für eine Offenbarung! Ich garantiere Ihnen: Von diesem Gespräch und von Ihnen würde dieser Bewerber noch seinen Enkeln erzählen! Sie würden Geschichte schreiben. Egal, wie das Gespräch ausgeht. Und er würde mit Begeisterung und von ganzem Herzen antworten. Ehrliche Antworten! Keine Lügengeschichten. Dann können Sie sich auch Ihre ganze Interviewshow sparen. Das wäre mal ein Gespräch auf Augenhöhe. Von Mensch zu Mensch.

Und jetzt stellen Sie sich vor: In fünf Jahren suchen Sie eine Fach- oder Führungskraft mit seinem Profil! Für den müssten Sie mindestens 30T Euro an einen Head Hunter zahlen. Ihr Chef gibt schon das Budget frei. Aber nein, müssen Sie nicht. Sie kennen ihn ja schon. Und rufen ihn an. Was für ein Traum, oder? Stellen Sie sich mal die großen Augen Ihres Chefs vor! Ist aber kein Traum. Sondern kann Realität werden. Wenn Sie weiter als nur bis zur nächsten Stellenbesetzung in drei Monaten denken. Und wenn Sie das Wort Netzwerk verstehen. Und die Möglichkeiten der Gegenwart nutzen. Wenn Sie etwas mehr darüber lesen möchten, auf Jobnet.de habe ich gerade dazu etwas geschrieben. Es sollte eigentlich um das Thema „Active Sourcing“ gehen. Aber darüber ist doch schon alles gesagt und geschrieben, oder? Darum habe ich mal in die Zukunft geblickt. Bauen Sie heute Netzwerke! Dann brauchen Sie auch kein Active Sourcing. Wenn Sie reinschauen wollen, dann gehen Sie hier direkt über Los!

Also, investieren Sie heute in die Zukunft – es lohnt sich!

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski