Personalauswahl – kritisch hinterfragt. Mit etwas Verzögerung kommt hier der zweite Teil meiner kleinen Reihe zur Personalauswahl. Diesmal geht es um das Auswahlkriterium „Noten“ aus Abitur und Studium. Ein Klassiker „guter Personalauswahl“ – und wie ich bzw. andere gleich zeigen werden: Ein echter Witz! Ist nur leider nicht witzig. Mann, Mann, Mann, ist schon komisch, mit welcher Hartnäckigkeit sich absoluter Blödsinn in unserer Arbeitswelt etabliert hat.

Jetzt finden Sie bestimmt, ich trage etwas dick auf. Gut, ich übertreibe vielleicht ein gaaaaanz kleines wenig. Aber wirklich nur etwas. Glauben Sie mir: Noten sagen vieles aus – über den, der sie als erstes oder zweites Auswahlkriterium nimmt. Aber nur wenig über den Bewerber. Um das zu erklären, wird dieser Artikel doch wieder etwas länger (Sie haben es sicher schon geahnt). Denn wir müssen tief graben um zu verstehen, wie unsere Personalauswahlpraxis so aus dem Ruder laufen konnte. Also, Kaffee holen, Tür zu machen – oder heute Abend in Ruhe weiterlesen.

Noten in der Personalauswahl – so gut wie keine Aussagekraft

Es haben sich schon klügere Menschen und Institutionen als ich mit dem Thema beschäftigt und herausgefunden: Noten haben (fast) keine Aussagekraft. Und werden als Auswahlkriterium auch durchaus kritisch gesehen. Aber das hat sich irgendwie noch nicht in der Arbeitswelt herumgesprochen. Ich brauche da gar nicht so viel selber zu schreiben, sondern empfehle Ihnen einige Artikel. Gilbert Dietrich, Personalleiter bei Unister, hat jahrelang Personalauswahlgespräche bei Google geführt und fasst in seinem Artikel „Sinnlose Bewerbungsgespräche“ die Erkenntnis zusammen, dass weder die akademische Leistung noch die bei Strategieberatungen so beliebten Knobelaufgaben mit der späteren Leistung im Job korrelieren.

Dann hat die ZEIT in „Die Noten-Lüge“ schön herausgearbeitet, dass alleine schon durch unterschiedlich strenge Professoren / Unis / Bundesländer die Notenvergabe nicht vergleichbar ist. Und liebe Unbelehrbare, kommen Sie mir jetzt nicht mit „Na, lieber Zaborowski, jeder Auswahlprofi weiß, dass ein Abi mit 2,0 in Bayern besser ist als eins mit 1,4 in Bremen. Das können wir Profis schon berücksichtigen“. Ich finde, so eine Kreuzpeilung können Sie gerne auf hoher See machen, aber nicht bei der Stellenbesetzung. Was machen Sie denn mit der Thematik, dass Studenten komischerweise immer „besser“ werden. Wie kommt das nur? Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Jo Dierks hat sich in seinem Artikel zur Azubi-Auswahl bei der Bahn ebenfalls mit dem Thema befasst und weist bei der Auswahl anhand der Noten auf den Fehler 2. Art hin, durch den Bewerber aussortiert werden, obwohl sie eigentlich für den Job gepasst hätten. Auch er sieht Noten als Auswahlkriterium kritisch, wenn auch nicht ganz so extrem wie ich.

Und sehr erfrischend (und doch auch deprimierend) finde ich den Beitrag vom SpiegelOnline, der fragt, warum denn eigentlich Ärzte zur Abi-Elite gehören müssen. Genau, müssen sie nicht. Da bleibt ein Abiturient mit 2,5 und einer echten (nachweisbaren) Leidenschaft für den Arztberuf halt draußen, während die 1,0 Abi Jungs und Mädels mitten in der Ausbildung bei der ersten Berührung mit dem Arztalltag erschreckt zurückzucken.

Und dann gibt es auch noch eine wissenschaftlichen Untersuchung einer Universität, in der ebenfalls nachgewiesen wird, dass Noten aus Schule und Studium einfach keine Aussagekraft über die spätere Leistung im Beruf haben. Leider finde ich den Artikel dazu nicht mehr. Vielleicht kann jemand helfen?

Der Grund für diesen fehlenden Zusammenhang von (sehr) guter Leistung im akademischen Bereich und im Job ist übrigens ganz einfach – die Tätigkeiten sind nicht vergleichbar. An der Uni kommt es Zweifel darauf an, sich Wissen kurzfristig anzueignen und zu einem bestimmten Zeitpunkt (Prüfung) wieder abzurufen (danach darf es gerne wieder gelöscht werden). Im Job werden Sie es aber nur mit Wissen aneignen nicht weit bringen. Sie müssen es permanent anwenden, auf die jeweilige Situation anpassen und vor allem mit den unterschiedlichsten Menschen, Arbeitsumfeldern und Umständen klar kommen. Es gibt Menschen, für die ist Schule und Uni das ideale Lernfeld – und für andere nicht. Aber das werden wir gleich noch genauer betrachten.

Personalauswahl durch Noten – eine Neid-Debatte?

Bevor jetzt irgendjemand denkt, ich arbeite hier meinen Schulfrust ab

und haue auf „die Streber“ drauf, lassen Sie mich das relativieren. Ich habe jahrelang für renommierte Strategie- & Managementberatungen gearbeitet und dabei (gezwungenermaßen) immer nur mit den Top Kandidaten der Uni-Landschaften gesprochen. Die meisten fand & finde ich sehr nett und normal und zu einigen von ihnen habe ich seit Jahren einen guten Kontakt. Und ich habe großen Respekt vor jungen Menschen, die Abi und Studium an einer Eliteuni mit 1,x machen und, weil das Studium sie nicht ausgelastet hat, sich auch noch ehrenamtlich oder in diversen Jobs engagierten. Hut ab! Neid ist mir hier völlig fremd, ich war die meiste Schulzeit ein schlechter Schüler, ich kenne meine Grenzen.

Warum schreibe ich dann einen ganzen Artikel über Noten? Na, weil ich zum Einen die Selbstverständlichkeit erschreckend finde, wie ein Kriterium mit fast keiner Aussagekraft als Hauptaussortierungskriterium benutzt wird. Zum Zweiten, weil ich jede Menge Menschen kenne, die ich für ziemlich intelligent und erfolgreich im Beruf halte, die es aber aufgrund ihres „nur durchschnittlichen“ Studiums unnötig schwer bei ihrer Berufsfindung hatten / haben. Und zum Dritten, weil das Thema Noten (also die Notwendigkeit, sehr gute Noten zu schreiben) in unserer Medienlandschaft und Gesellschaft unglaublich gehyped wird. Als Vater habe ich das jetzt sogar auf der Grundschule miterleben müssen! Und das ist einfach krank!

Und dass wir uns nicht missverstehen: Ich behaupte hier nicht, dass ein BWL Absolvent mit 3,7 an der FH Bremen genauso „gut“ ist wie ein BWL Absolvent mit 1,6 an der Uni Mannheim. Aber ich behaupte, dass zwischen einem Abschluss mit 1,8 und einem mit 2,5 kein RIESEN Unterschied ist. Und dass auch eine 3,0 eine respektable Leistung ist. Es gibt genug externe Faktoren, die einen 0,5 Punkte Unterschied bewirken können. Das Problem ist aber ja, dass die meisten Unternehmen eine Note definieren, die erreicht werden muss. Oft eine 1,x. Mit einem 2,5 Notenschnitt haben Bewerber bei den meisten Beratungen, Großunternehmen und Konzernen mit der klassischen Bewerbungsform (email/online/Post) schon keine Chance mehr und werden aussortiert.

Personalauswahl durch Noten – von wegen!

Und ich rege mich auf, weil die Unternehmen sich ja nicht mal selbst an ihre Vorgaben halten.

Ein konkretes Beispiel der letzten Monate: Ein frisch gebackener Wirtschaftsingenieur der TU Darmstadt hat seinen Abschluss mit 2,2 gemacht. Abi war 2,0 (wenn ich mir richtig erinnere). Berufsrelevante Praktika hatte er natürlich auch absolviert, klar. Er bewirbt sich bei diversen Beratungen und bekommt eine Absage nach der nächsten. Ich gebe ihm ein paar Tipps zu seinem Lebenslauf, aber eigentlich ist der völlig i. O.. Fachlich bringt er auch vieles mit. Meine einzige Erklärung: Es liegt an der fehlenden 1 vor dem Komma.

Einige Wochen später geht er auf einer großen Recruitingmesse zu genau den Firmen, die ihm bereits abgesagt haben. Und bekommt von fast allen noch vor Ort die Zusage zu einem Vorstellungsgespräch – und am Ende drei Jobangebote. Hm, ist er jetzt durch sein persönliches Erscheinen intelligenter geworden als noch bei der email-Bewerbung? Wohl kaum. Der persönliche Kontakt hat den Ausschlag gegeben. Da kam jemand zum Messestand, der klar reden konnte, nett war und einen grundsoliden Eindruck gemacht hat. Er erzählt von seinen interessanten Praktika – und „Zack“, auf einmal ist die 2,2 im Abschluss dann doch nicht mehr sooooo relevant.

Klar, ich vermute hier nur, dass es bei den vorherigen Absagen an den Noten lag. Aber ich kenne die Praxis lang genug und habe Dutzende solcher Beispiele erlebt. Schon komisch, dass die Unternehmen spätestens bei solchen Erfahrungen nicht umdenken. Liebe Hiring Manager, wenn ihr euch das auch in Zukunft leisten könnt, bitte. Aber argumentationsstark ist anders!

Nur so nebenbei: Ich kenne übrigens auch Hiring Manager, denen die akademischen Leistungen der Bewerber egal sind. Meistens arbeiten die in KMUs oder es geht um Jobs, in denen eher soziale Kompetenzen gefordert sind (z. B. im Vertrieb). Leider denken viele Absolventen ja immer noch, sie werden nur bei den „Großen“ glücklich.

Personalauswahl durch Noten – was sagen die denn nun eigentlich aus?

Jetzt kommen wir zu dem spannenden Aspekt, was Noten eigentlich aussagen können. Dazu müssen wir erst einmal kurz überlegen, was für Menschen sehr gute Noten bringen. Aus meiner Sicht gibt es drei Gruppierungen:

1) Jemand ist außerordentlich intelligent und schafft es ohne viel Mühe in allen Disziplinen zu Top Leistungen. Solche Menschen gibt es, wir kennen alle mindestens zwei aus unserem Umfeld und ihre Namen werden immer mit Bewunderung und Ehrfurcht ausgesprochen. Respekt!

2) Jemand ist durchschnittlich intelligent (oder meinetwegen auch etwas drüber) und sehr fleißig und gewissenhaft. Schlimmstenfalls als Streber verschrien, glänzen diese Menschen durch kontinuierlichen Lerneinsatz und eine hohe Konstanz in wiederum fast allen Disziplinen. Aus meiner Sicht ist der Erfolg vor allem der Persönlichkeit „geschuldet“. Aber auch hier: Respekt!

3) Jemand ist durchschnittlich intelligent und von Natur aus nicht wirklich fleißig. Aber sein Umfeld (Eltern, Mitschüler/Kommilitonen, Medien etc.) treiben ihn/sie zu Höchstleistungen an, um „überhaupt eine Chance zu haben“. Hier ist der externe Druck der Erfolgsfaktor für sehr gute Noten. Respekt? Hm, ich weiß nicht.

Alle anderen schreiben halt durchschnittliche Noten, irgendwo im zweier-dreier Bereich mit Schwankungen je nach Fächern. Das hat selten was mit Intelligenz, sondern eher was mit Motivation, Interessen und sozialem Umfeld zu tun. Für diesen Gedankengang weise ich nochmal ausdrücklich auf den Kommentar eine Absolventin zu meinem ersten Personalauswahlartikel hin.

Diese Gruppierung ist natürlich recht grob, aber Sie dürfen mir ja auch sehr gerne widersprechen. Zusammengefasst heißt das: Sehr gute akademische Leistungen über alle Disziplinen hinweg entspringen entweder einer sehr hohen Intelligenz oder sehr großem Fleiß (angeboren oder anerzogen).

Personalauswahl durch Noten – Sicherheitsdenken bei den Entscheidern

Und mit dieser Erkenntnis haben wir auch die Gründe, warum sehr guten Noten so gerne als Auswahlkriterium genommen werden. Entweder der Hiring Manager bekommt einen sehr intelligenten Mitarbeiter (wer will das nicht) oder zumindest einen sehr fleißigen/gewissenhaften. Bei dem darf ich darauf vertrauen, dass er/sie sich klaglos in alles einarbeitet, was ich ihm vorlege. Alle anderen Bewerber bedeuten einen großen Unsicherheitsfaktor! Entweder haben sie keinen Bock auf Leistung, sind Freigeister die nur ihren eigenen Interessen nachgehen, wollen/müssen den Sinn hinter einer Sache sehen um motiviert zu sein (wie anstrengend) oder sind tatsächlich geistig nicht fit genug. Wollte ich hier als Hiring Manager sorgfältig auswählen, müsste ich mich ja ernsthaft mit den Menschen, die hinter den Noten stehen, auseinandersetzen. Das können und wollen aber anscheinend die wenigsten.

Natürlich gibt es noch einen anderen Grund, warum Noten so gerne als Auswahlkriterium genommen werden: Es gibt dem Hiring Manager das schöne Gefühl, sich nur mit den (vermeintlich) Besten zu umgeben. Das schmeichelt dem Ego.

Personalauswahl durch Noten – müssen es immer die Besten sein?

Die Frage ist natürlich auch, ob es für alle Jobs pauschal immer die formal „Besten“ sein müssen? Ich denke eher „nein“. Wie ich in meinem Artikel „Noah rettet die Welt“ schon schrieb, dürften die meisten Jobs auf dieser Welt auch von den meisten Menschen bewältigt werden können. Der/die Beste im jeweiligen Job zu sein ist eher eine Frage der Persönlichkeit und der Interessen. Außerdem stellt sich die Frage: Was mache ich eigentlich mit den ganzen High Potentials? Ich kann doch nicht jeden zum Geschäftsführer machen? Und dann beobachte ich noch etwas anderes, eigentlich lustiges: Studenten erzählen mir oft von ihren Praktika in den Konzernen und was sie da teilweise für „stumpfe“ Aufgaben übernehmen. Da werden z. B. monatlich Reportings erstellt, indem ein Mitarbeiter Tage vor Monatsabschluss nur damit beschäftigt ist, die Daten aus verschiedenen Quellen (Systemen/Abteilungen) zusammen zu tragen und dann händisch in eine PowerPoint Präsi für die Entscheider zu hacken. Für solche Aufgaben werden auch gerne Praktikanten genommen. Die dann kurzerhand in drei Monaten eine Excel-Lösung  basteln, die die Arbeit von Tagen in wenigen Minuten erledigt.

Wenn ich so etwas höre frage ich mich immer: Liebe Unternehmen, ihr sucht wirklich die „Cracks“ unter den Absolventen? Und habt dann auch heute noch solche Jobs zu vergeben? Ernsthaft?

Personalauswahl mit Noten – die Zusammenfassung

Ich könnte noch so viele Geschichten schreiben von Menschen, die hochintelligent oder einfach sehr erfolgreich im Job sind – ohne einen tollen akademischen Abschluss. Aber das sprengt jetzt hier den Rahmen. Lassen Sie uns festhalten: Noten haben so gut wie keine Aussagekraft über die spätere Leistung im Job. Punkt. Von daher sollten sie auch nicht den Stellenwert haben, den sie im Bewerbungsprozess immer noch haben: Nämlich den des ersten oder zweiten Auswahlkriteriums (neben so „aussagestarken“ Kriterien wie Lichtbild und CV …). Wer das Gegenteil behauptet arbeitet entweder in einem sehr speziellen Bereich (es gibt mit Sicherheit einige wenige Berufsfelder, da muss man hochintelligent und/oder extrem fleißig sein, z. B. in der Strategieberatung) oder ist beratungsresistent.

Und weil es so wichtig und witzig ist, hier noch schnell ein weiterer Klassiker in der Personalauswahl: Das Betreiben von Mannschaftssport. Bewerber mit diesem Hobby gelten gemeinhin als besonders Teamfähigkeit. Eine Studentin hat das mal untersucht. Ergebnis: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Teamsport und Sozialer Kompetenz. Schön, oder? Die Illusion hält sich aber immer noch hartnäckig.

Im nächsten Artikel werde ich dann nochmal auf das Thema „Perfekter Lebenslauf“ eingehen (hier geht es lang). Wenn Sie noch Zeit und Lust haben, stimmen Sie sich doch schon mal darauf ein und nehmen Sie Abschied! Abschied von der Bewerbungshow.

Einen guten Start in die Woche,

Ihr Henrik Zaborowski