Die gängige Recruiting- und Bewerbungspraxis in Deutschland hatte ich im Jahr 2000 schon in meiner Diplomarbeit untersucht und kopfschüttelnd diagnostiziert: „Was für ein Schrott! Das kann gar nicht funktionieren.“ Dafür bekam ich überschwängliches Lob und einen Preis – und 15 Jahre später muss ich erkennen: Es hat sich bis heute nichts geändert. Nun ja, selbst ich gewöhne mich an vieles. Und wie sich das Recruiting verbessern lässt, darüber schreibe ich ja immerhin schon. Von der anderen Seite, der Bewerbungspraxis, habe ich bisher immer die Finger gelassen. Denn ich war und bin der festen Überzeugung, nicht jeden Kampf kämpfen zu müssen. Bis … ja, bis das Fass überlief. Und mich jetzt zu etwas „zwingt“, das ich nie tun wollte. Aber vielleicht haben wir ja alle etwas davon?

Bewerbungsratgeber – unfassbarer Blödsinn macht die Runde

Was war passiert? Nun, es war vermutlich eine unglückliche Verkettung tragischer Zufälle. Bei der ZEIT Online stieß ich auf diese Beiträge einer Kommunikationstrainerin, wie man richtig auf verschiedene Bewerbungsfragen antworten sollte. Ich war und bin entsetzt, und nicht nur ich, wie man den Kommentaren entnehmen kann. Liebe ZEIT, bitte, was ist da los? Sind Form und Inhalt ernst gemeint? Da sind zumindest einige Inhalte mehr als grenzwertig.

Dann las ich im in einer bekannten Tageszeitung von einem „Personalberater“ diesen unfassbaren Satz: „Ich muss aus dem Lebenslauf sofort erkennen können, ob der Bewerber die neue Tätigkeit packt„. Ergänzt wurde das Zitat mit „Der Personalberater greife schließlich auf Erfahrungen zurück“. Ich verlinke bewusst nicht auf diesen Artikel, das möchte ich weder dem Berater, noch dem Journalisten, noch Ihnen antun. Wie kann es passieren, liebe Leser, dass so ein absoluter Blödsinn veröffentlicht wird? Spätestens hier muss jeder durchschnittlich intelligente Leser an der Zunft der Personalberater (ver)zweifeln. Wenn ich anhand eines Lebenslaufes sofort erkennen könnte, ob der Bewerber den Job packt … dann kann auch ein Praktikant die perfekte Auswahl treffen! Ach so, stimmt, ist ja auch durchaus gängige Praxis! Ich kann also anhand eines Lebenslaufes sehen, ob jemand den Job kann? Aber natürlich auch nur dann, wenn der Bewerber (der sich alle paar Jahre mal bewirbt) den Lebenslauf richtig schreibt? Wozu brauche ich dann noch einen Personalberater? Genau, so einen Personalberater brauchen Sie auf gar keinen Fall. „Setzen, Sechs!“

Und zu guter Letzt erschien online mal wieder einer (von vielen) Berichten zum Thema „In x Schritten zum perfekten Bewerbungsfoto“ (Sie dürfen gerne einfach mal nach „Schritten“ „perfekt“ und „Bewerbung“ googlen. Suchen Sie sich die Treffer aus).

Das war der Moment, in dem in mir eine Sicherung durchknallte und ein Entschluss reifte. Ich werde etwas tun, was ich bisher immer vermieden habe: Ich werde Stellung zur Bewerbung beziehen. Und damit Gefahr laufen, mich einzureihen in die Hundertschaften von Bewerbungsratgeberautoren, -redner und –coaches, die im Bewerbungsschwachsinn erst ihren Verstand verloren und dann den Schwachsinn zur Kunst erhoben. Was für eine Tragödie. Was für Leid hat diese Zunft über unsere Arbeitswelt gebracht? Wie viele Bewerberseelen haben sie auf dem Gewissen? Die armen Unschuldigen, die trotz Einhaltung aller (Glaskugel)klaren Tipps mit ihren Bewerbungen am Schwachsinn des Systems scheiterten. Und am Ende einsam, verlassen, verraten und mit nackten Füßen über den kalten, rauen Asphalt erbarmungsloser Doktrin angeblich einzig richtiger Bewerbungsnormen schlurfend, den letzten Rest ihres Selbstvertrauens und Gerechtigkeitsempfindens im Rinnstein der Straße der Vergessenen ausbluteten.

Recruitingpraxis – die Geister, die sie riefen …

Sie finden, ich bin zu hart? Ja, Sie haben Recht. Denn angefangen mit diesem Blödsinn haben ja nicht die Bewerbungsratgeber, sondern die Unternehmen. Aber auch wenn ich eigentlich nie jemanden persönlich angreifen oder zu nahe treten will, hier musste ich klar Stellung beziehen. Denn was wäre Aufgabe der intellektuellen Ratgeberklasse gewesen? Richtig: Den Unternehmen den Finger in die Wunde zu legen, einen Spiegel vorzuhalten und zu sagen: „Stopp! Haltet ein! Wehret den Anfängen. Denn die Geister, die ihr ruft, werdet ihr nicht mehr los!“ Aber das taten sie nicht. Stattdessen haben sie unser Problem noch potenziert und den Bewerbern für gutes Geld schlechte Antworten und Maßnahmen auf noch schlechtere Fragen und Vorgaben eingebläut.

Und die eigentlich Schuldigen, die Unternehmen? Nun, schwimmend im Meer von Bewerbern, sicher stehend auf Deck des Personalauswahldampfers, angetrieben durch die immer „schlauer“ werdenden Bewerber und getragen auf der Welle des angeblichen Recruitingerfolges verrannten diese sich in immer dümmere, fadenscheinig intellektuelle Auswahlprozesse – und niemand gebot ihnen Einhalt. Und inzwischen ist fast jedes Wort, jeder Satz in dieser ganzen Bewerbungsshow so verklausuliert, so vom Unrat landläufigen HR Lallens überzogen, dass selbst einstmals gute Fragen längst in ihrem Kern vergiftet und unbrauchbar geworden sind. Der Bewerbungs- und Personalauswahlprozess ist zu einer Bewerbungshow verkommen. Eine Show, die ich gerne unter die Erde bringen würde. Die Grabrede hatte ich bereits Anfang 2013 gehalten. Doch das Biest hält sich hartnäckig. Aber damit muss Schluss sein.

Recruiting- und Bewerbungspraxis im Jahr der Kandidaten?

Ich werde reagieren. Der Anfang ist mit diesem, in der Wortwahl zugegeben harten Artikel gemacht. Warum jetzt? Weil ich es sonst vielleicht nie anfangen werde. Und weil wir 2015 haben. Das Jahr der Kandidaten! Kennen Sie noch nicht? Dann mal schleunigst hier bei Jo Diercks vorbeischauen und sich über die Blogger-Challange informieren. Und dran bleiben. Es muss sich was ändern, liebe Leser. Ich denke, da sind wir uns einig. Auf dem HR Innovation Day in Köln bekam ich wieder viel Zustimmung zu meiner These, dass wir den Menschen endlich in den Recruiting-Mittelpunkt stellen müssen. Die Zeit ist reif, aber das war sie auch schon im Jahr 2000. Bis der Neue Markt zusammenbrach und der 11. September kam. Aber wenn wirklich der Demografische Wandel in 10 Jahren Einzug in die deutschen Wirtschaftsetagen nimmt, dann sollten wir dafür gewappnet sein. Und die Lösung heißt nicht, noch krankere Auswahlprozesse zu entwickeln.

Recruiting- und Bewerbungspraxis – auch beim Recruiterslam!

Nachdem ich nun also die Videos auf ZEIT Online gesehen habe, war mir klar, das musst du machen, Henrik. Darum habe ich mich, auch wenn ich mich mit der Durchführung nicht ganz wohl fühle und nicht 100%ig mit dem Ergebnis zufrieden bin, für die Form des Videos entschieden. Warum? Nun, offensichtlich ist Video der neue Trend. Und außerdem muss ich schon mal üben. Für den Recruiterslam. Michael Witt, einer der Organisatoren, hat schon zum „warmbatteln“ aufgerufen. Wir suchen übrigens noch weitere Recruiter für das Battle. Wie wäre es mit Ihnen? Oder sonst als Zuschauer. Am 9. April in Stuttgart! Tickets gibt es bereits für 10 Euro.

Und ich hoffe, bis dahin sind Sie mir und meinen Ausführungen treu geblieben. Denn in den nächsten Wochen werde ich zu verschiedenen Aspekten im Recruiting- und Bewerbungsprozess per Video Stellung beziehen. Abonnieren Sie doch am besten gleich meinen Youtube Kanal bzw. die Playlist. Und bitte diskutieren Sie mit. Hier, oder wahrscheinlich am besten auf dem Youtube Kanal direkt. Und widersprechen Sie! Schlagen Sie bessere Alternativen vor! Lassen Sie uns diskutieren. Denn es gibt nichts zu verlieren. Schlimmer kann es nicht werden. Ich freu mich darauf!

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski