Recruiting in Zeiten des Fachkräftemangel, das ist kein Spaß. Fachkräftemangel ist ja inzwischen so ein Reizwort, oder? Die einen sagen, es gibt ihn. Die anderen sagen, es gibt ihn nicht. Die richtige Antwort lautet wie immer: Es kommt darauf an. In meinen aktuellen Projekten erlebe ich gerade wieder mal banale Beispiele, wie Unternehmen sich den Fachkräftemangel selber ranziehen. Aus eigentlich gut nachvollziehbaren Gründen. Aber unter Ausblenden der Veränderung der Arbeitswelt. Und da diese Veränderungen nicht mehr aufzuhalten sind, sollten Arbeitgeber anfangen, ihre „Gründe für den Fachkräftemangel“ mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein paar Beispiele aus meiner aktuellen Praxis liefere ich Ihnen jetzt hier.

Ich unterstütze aktuell einige meiner Kunden durch Sourcing Maßnahmen in der allseits gesuchten Zielgruppe der IT-Spezialisten (Entwickler, Infrastruktur) und IT-Berater. Wie ich schon in meinem letzten Beitrag „Recruiting zwischen Genie und Wahnsinn“ schrieb, ist das FINDEN der gesuchten Spezialisten nicht das Problem. Sicherlich wird es aus verschiedenen Gründen schwieriger. Auf der anderen Seiten haben uns, wie im Artikel geschrieben, internationale Sourcing Größen (und auch ein paar deutsche ;-)) auf dem SourcingSummit Deutschland gezeigt, dass man heute an ALLE Informationen kommen kann. Die Probleme fangen vor und nach dem Finden an. Ich konzentriere mich jetzt mal auf das „nach dem Finden“, also auf die erfolgreiche Ansprache und in die Interaktion danach.

XING Anfragen werden ignoriert

Zum Beispiel telefonierte ich mit einem guten Kontakt von mir, der als IT Berater arbeitet und in seinem XING Profil den Status „aktiv auf Jobsuche“ stehen hat. Weil er tatsächlich wechselwillig ist, aber nur unter bestimmten Umständen. Er ist einer der gesuchten High Potentials, top ausgebildet, super Projekte und dazu auch noch nett! Er sagte mir, dass er nur ca. 10-15% der XING Anfragen überhaupt liest!! Anfragen für einen Wechsel innerhalb der Beratungsbranche ignoriert er komplett. Diese Anfragen können also noch so gut und individuell sein – sie werden nicht gelesen. Und ähnliches Feedback bekomme ich immer wieder mal von den Spezialisten. Nach dem Motto „ich bekomme so viele Anfrage, die lese ich inzwischen gar nicht mehr„. Was aber auch damit zusammenhängt, dass viele Recruiter/Vermittler offensichtlich immer noch Standardtexte verfassen. Und oft für Jobs, die gar nicht passen. Da hat doch dann wirklich keiner Lust mehr! Wir Recruiter schaufeln uns also offensichtlich kollektiv unser eigenes kleines Grab.

Warum wechseln? Es gibt keinen Grund!

Active Sourcing

Ich bin mit meiner Antwortquote von im Schnitt 40% in dieser engen Zielgruppe durchaus happy und eher im oberen Level unterwegs. Das freut mich, nützt mir aber auch nicht viel. Denn die meisten schreiben mir nett zurück: Kein Interesse. Denn: Die sind alle im Job, sind dort gefragt, sind wichtig, haben zu tun, werden in der Regel gut bezahlt … ! Es gibt keinen Grund zu wechseln! Warum sollte ich mich also damit auseinandersetzen? Genau, warum? Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Wer zufrieden ist, setzt sich nicht mit einem Jobwechsel auseinander! Dafür ist der Aufwand in Deutschland viel zu groß und das Risiko, dass es hinterher gleich oder schlechter ist, ist auch immer da. Warum also wechseln? Keine Ahnung! 

Natürlich kann man immer einen Grund finden: Mehr Geld, mehr Verantwortung, spezielle und nicht alltägliche Projekte. Aber ob diese Punkte wirklich zu einem Wechsel motivieren, wenn ich grundsätzlich zufrieden bin im Job? Meine Erfahrung sagt: Nein! Die Hürde ist schon groß. Ich kenne sogar Spezialisten, die mir seit Jahren erzählen, dass sie unbedingt wechseln wollen. Aber den Schritt doch nicht machen. Weil es irgendwie dann noch nie so 150% passt. Lassen Sie mich die Erkenntnis festhalten: In Zeiten einer gefühlten (oder tatsächlichen?) Vollbeschäftigung sind die Anreize, den Job zu wechseln, eher gering. Viele Unternehmen haben inzwischen verstanden, dass sie ihre Mitarbeiter halbwegs solide behandeln müssen. Bei den Spezialisten sowieso. Da holen Sie nicht mal eben jemanden weg. Das gelingt ihnen nach wie vor am besten bei den „bekannten Namen Ihrer Szene“. Arbeitgeber, die seit Jahren ein allseits bekanntes Fluktuationsproblem haben, weil sie es nicht hinbekommen, einen Kultur zu entwickeln, in denen sich Mitarbeiter wohl fühlen. Da kriegen Sie immer jemanden rausgelöst. Aber die Unternehmen werden weniger.

Großes Thema Standort und Arbeitsort

Letztens bekam ich aus meinem Netzwerk ein Jobangebot zugeschoben. Da stand tatsächlich „mein Name drauf“, ich war verblüfft. Der Job las sich super. Aber unabhängig davon, dass ich keine Lust mehr auf eine Festanstellung habe, war der Standort der Killer! Für mich „am Ende der Welt“. Bestimmt total schön, idyllisch und perfekt für Familien. Aber erstens in einer Region, in die ich meine Familie nie bekommen hätte. Und zweitens hätte ich halt tatsächlich umziehen müssen. Aber warum sollte ich umziehen, wenn ich in meiner aktuellen Region genug Auswahl habe? Warum? Die Hürde ist groß! Ich bin 2005 von Bremen ins Rheinland gezogen. Das war für uns echt ein Akt. Aber es gab keine Alternative! In Bremen gab es zu der Zeit einfach nichts. Da sieht hier im Rheinland ganz anders aus! Und es gibt ja inzwischen auch Jobs, die kann ich vom home office aus leisten. Habe ich auch schon 1,5 Jahre erfolgreich gemacht. Ich habe also genug Auswahl in meiner Region. Warum sollte ich für einen Job umziehen? Keine Ahnung!

Natürlich finde ich auch jetzt noch Spezialisten, die umzugsbereit sind. Das hat dann aber oft zwei konkrete Gründe: Entweder mögen sie die Region, in der der neue Job ist. Haben dort Familie / Freunde oder sind noch komplett ungebunden und wollen was Neues kennenlernen. Oder sie sind so angefressen von ihrem aktuellen Job und Arbeitgeber, dass ich das Momentum nutzen kann. Wenn dann noch die Tätigkeiten, das Umfeld und das Gehalt passt, dann gibt es tatsächlich eine gute Chance. Aber auch nur dann.

Die Konsequenz der Arbeitgeber muss aus meiner Sicht sein, flexibleres Arbeiten zu ermöglichen. Die ganze Diskussion über home office vs. Präsenzkultur hin oder her. Die Unternehmen MÜSSEN flexibler werden. Während ich diesen Artikel schreibe, bekomme ich auf XING eine Antwort von einem Spezialisten, den ich vor kurzem angeschrieben habe. Seine Frage in der zweiten Zeile: „Ist diese Stelle zu 100% im Office? Oder gibt es home office Verträge?“ Ich muss ja nicht New Work in Reinkultur leben und alles erlauben. Aber klare home office Möglichkeiten, völlig flexible Arbeitszeiten oder die Eröffnung eines Büros an einem anderen, zentraleren Standort muss diskutiert werden. Ich persönlich kann mit kompletter remote Arbeit mit vereinzelten Besuchen im Büro sehr gut leben. Das ist aber auch persönlicher Stil. Ich kenne viele Spezialisten, die wollen jeden Tag vor Ort mit den Kollegen zusammen sein. Fakt ist: Unternehmen an abgelegenen Standorten haben immer mehr Schwierigkeiten, jemanden der nicht aus der Region kommt, dorthin zu locken. Was anderes ist es mit „ehemaligen Einheimischen“, die wieder zurück in ihre Heimat möchten. Aber davon gibt es ja in der Regel auch nicht sooo viele. Also, wir leben in der Digitalisierung und suchen in der Regel IT Spezialisten. Dann gebt denen auch die Möglichkeit die technischen Möglichkeiten zu nutzen und „woanders“ zu arbeiten als in euren geliebten Räumen, liebe Arbeitgeber! Das macht den Arbeitgebern mehr Arbeit und schafft im Zweifel Unsicherheiten (arbeitet der da jetzt auch wirklich?). Aber ihr werdet die Zeit nicht wieder zurückdrehen. Außer es kommt die nächste Weltwirtschaftskrise. Aber dann haben wir alle ganz andere Probleme.

Strukturen und Gehälter

Letztens hatte ich ein nettes Telefonat mit einem IT Spezialisten, der aktiv auf Jobsuche war. Er war fest in seinem aktuellen Job, aber er wollte wechseln und führte auch schon diverse Gespräche. Sein „Problem“ war erschreckend. Er war noch recht jung, hatte aber aufgrund seiner dualen Studiengänge schon einige Jahre Berufs- und noch viel wichtiger: Projekterfahrung in der IT gesammelt. Und offensichtlich ist er auch ein „pfiffiges Kerlchen“ und kann was. Seine Aufgaben und Projekte lesen sich auf jeden Fall sehr interessant. Jetzt bekam er tatsächlich zwei Mal das Feedback von zwei Arbeitgebern, dass sie ihn gerne einstellen würden, aber aufgrund seines Alters wäre er ja noch ein Junior. Mit einer entsprechenden Einordnung in der Hierarchie und Titel und einem entsprechendem Gehalt. Was ca. 25T Euro unter seinen Vorstellungen lag. Unfassbar! Der Mann ist definitiv kein Junior mehr, gemessen an seiner Berufserfahrung. Konsequenz: Er nennt jetzt immer bevor ihn jemand zum Gespräch einladen will, seine Gehaltsvorstellungen und sein gewünschtes Hierarchielevel. So sparen sich beide Seiten viel Zeit.

Und ich muss wieder feststellen: So gut ich auch verstehe, dass jedes Unternehmen „gewachsene Strukturen“ und Gehaltseinordnungen hat – und ja, ich kann nicht jedem alles zahlen – ich muss als Arbeitgeber merken, wenn ich was verändern muss. Ich habe inzwischen Kunden die mir sagen, „Zaborowski, für diese Position ist das Gehalt zweitrangig. Da werden wir uns schon einigen, wenn ansonsten alles passt“. Wir können das als Personaler doof finden und völlig zu Recht auf die Ungleichheit und das Konfliktpotential im Unternehmen hinweisen, wenn „das rauskommt“. Der Punkt ist: Wir werden diese Entwicklung nicht ändern! Wer gut ist und seinen Marktwert kennt, der wird in Zukunft mehr fordern. Und dann brauchen wir nicht mit unseren jahrzehntealten Strukturen argumentieren. Die sind dann unser Problem, nicht die des Bewerbers. Der wird seinen Platz dann halt woanders finden.

Fähigkeiten oder Potentiale?

Wir wissen es alle, aber ich muss es nochmal betonen: Wenn Sie niemanden finden, der perfekt auf Ihre Anforderungen passt – dann nehmen Sie den nächsten, der nur 75% passt! Und bringen ihm den Rest bei bzw. lassen ihm die Zeit, sich zu entwickeln. Wissen und Fachkenntnisse werden doch immer unrelevanter! Sagen wir doch alle immer! „We hire for attitude and train for skills“! Ist in der Praxis aber natürlich nur ein Lippenbekenntnis. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Den mit den Fachkenntnissen stellen wir ein und hoffe, dass es auch persönlich passt. Anders funktioniert ja auch unsere Personalauswahl gar nicht. Dass dieses „System“ nicht mehr lange funktioniert, behaupte nicht nur ich in meinen Vorträgen (siehe unten), sondern auch viel schlauere Köpfe als ich. Marcus Reif, immerhin Chief People Officer bei Kienbaum (wir kennen ihn alle), hat dazu einen tollen Artikel geschrieben: „Hire character, train skills“.

Macht in der Praxis aber kaum jemand, weil niemand die Zeit dafür hat. „Ich muss jetzt die Stelle besetzen, der Job muss jetzt getan werden. Ich kann nicht noch jemanden ein halbes Jahr Zeit zur Einarbeitung lassen“. In der Konsequenz bleibt die Stelle ein Jahr lang unbesetzt … Wir werden das ändern müssen. Gerade hatte ich wieder jemanden, der mir sagte: „Zaborowski, ich will in diesen Arbeitsbereich rein. Ich habe mich schon auf eigene Kosten weitergebildet. Ich bin umzugsbereit. Ich habe aber noch keine direkten praktischen Erfahrungen in dem Thema. Aber ich will da rein. Aber niemand lässt mich. Ich bekomme eine Absage nach der nächsten. Grund: Die fehlende praktische Erfahrung!“ Hier stimmen Motivation und Interesse. Wird sich diese Person fachlich „reinhängen“? Mit Sicherheit! Wird er den Job später gut oder sehr gut machen? Keine Ahnung! Das wissen Sie von dem, der den Job schon seit ein paar Jahren macht, aber auch nicht zu 100%. Warum geben wir den Menschen keine Chance? Wir können uns das einfach nicht mehr leisten. Auch, wenn es natürlich mehr Invest bedeutet. Aber die Zeiten der easy Stellenbesetzungen sind vorbei. Lehnen Sie den Bewerber ab, weil er persönlich nicht passt. Meinetwegen. Aber nicht, weil er fachlich etwas (noch) nicht kann, aber ALLES darauf hindeutet, dass er sich dahin entwickeln will und das intellektuell auch schaffen wird. Dafür müssten wir natürlich erstmal unsere Personalvorauswahl ändern, aber das ist ein anderes Thema.

New Work Schnickschnack

New Work ist ja so ein Sammelbegriff unter dem im Zweifel alles gepackt wird. Ich empfehle zu dem Thema und der aktuell geführten Diskussion übrigens unbedingt die blogparade #newwork17 von Winfried Felser und der Competence Site. Mit super super Beiträgen, u.a. von Harald Schirmer von Continental. Ich will hier nicht stärker auf einzelne Aspekte eingehen. Wichtig ist nur zu realisieren: Ja, die Arbeitswelt ändert sich fundamental! Nicht abrupt heute. Nicht in einem Jahr. Aber der Prozess hat begonnen. Wir kommen auf Dauer nicht mehr drumherum. DAS ist eine Tatsache. Und darum müssen wir die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten genauso hinterfragen wie unsere Einstellung / Meinung zu Mitarbeitern und ihrer Arbeitsmotivation und natürlich auch unser Recruiting. Und zwar in mindset und operativem Handeln. Wir können nicht weitermachen wie bisher! Wir müssen was ändern. Was, das muss jeder Arbeitgeber für sich selbst herausfinden. Aber ein „weiter so“ funktioniert kaum noch. Selbst bei den großen, namhaften Arbeitgebern, die sich an vielen Stellen vor Bewerbungen nicht retten können, ist diese Erfahrung angelangt. Es gibt Bereiche, da muss sich jedes Unternehmen strecken, um die Stellen zu besetzen. Das kann ich Ihnen aus vielen Gesprächen einfach mal verraten 😉

Recruiting in Zeiten der Digitalisierung

So, das war jetzt wieder lang, sorry. Dafür schreibe ich ja momentan sehr selten. Auch sorry. Ich mach jetzt Schluss. Und freue mich auf Ergänzungen / Anregungen in den Kommentaren. Wenn Sie sich noch ein wenig inspirieren lassen möchten, welche Veränderungen ich Ihnen im Recruiting empfehle, können Sie ja noch in meinen letzten Vortrag zum Thema „Querdenker – Nein Danke! Warum die Digitalisierung unsere Personalauswahl ins Abseits drängt“ reinschauen. Ganz lean mit dem Handy bei der Veranstaltung von Cornerstone OnDemand aufgenommen, daher in Ton und Bild keine optimale Qualität. Aber besser als nichts 😉 Bei der Gelegenheit „Dankeschön“ an Jannine Dockhorn von Cornerstone fürs Aufnehmen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Überdenken Ihrer alten Denk- und Verhaltensmuster. Recruiting in Zeiten des Fachkräftemangels bedeutet: Wir müssen den Kopf aufmachen. Bringen Sie ein paar neue Ansätze in Ihr Unternehmen. Ich weiß, ohne Managementsupport wird das nicht gehen. Aber wir werden nicht daran vorbei kommen.

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski