Die Personalauswahl ist voll von Irrtümer, ohne Frage. Aber den allergrößten Fehler in unserer Recruitingpraxis kann ich auf einen wesentlichen Irrtum zusammendampfen. Wenn Sie den ausschalten, garantiere ich Ihnen eine Erfolgssteigerung Ihres Recruitings um mindestens 30%. Ich kann es Ihnen sogar beweisen. Das bittere ist, dass dieser Irrtum sich so sehr als feste Größe im Recruiting und der Personalauswahl etabliert hat, dass er gar nicht mehr auffällt. Und ich den meisten Personalern und Fachbereichen erstaunliches Selbstbewusstsein bei völliger Ahnungslosigkeit unterstellen muss. Und da ich aus Erfahrung weiß, dass die meisten Personaler eigentlich intelligente Menschen sind – versuche ich es einfach nochmal mit guten Argumenten. Und hoffe, wir können uns irgendwann von diesem Wahnsinn befreien. Dann klappt es auch wieder mit der Einstellungsquote. 

Gerade komme ich von den Social Recruiting Days 2016, wo ich spontan mit einem Vortrag über Recruitingmarketing für den erkrankten Tim Verhoeven eingesprungen bin. Tim hatte in seiner Präsentation einen sehr passenden Spruch, den ich dankbar aufgriff:

„Recruiting ist wie Religion. Es basiert oft auf Glauben und nicht auf Wissen.“

Sie wissen, ich bin kein Zahlenmensch. Aber das brauchen Sie auch nicht zu sein, um Tatsachen zu wissen. Dazu brauchen Sie nur etwas gesunden Menschenverstand – und Lebenserfahrung. Tim bezog den Spruch auf den Erfolg von Stellenanzeigen. Und meint damit, dass die meisten Unternehmen gar nicht wissen, was ihre Stellenanzeigen wirklich bewirken! Aber keinen stört es. Es wird halt geglaubt, dass sie was bringen. Das ist auch meine Erfahrung. Aber auch wenn es mit dem Thema Personalmarketing nichts zu tun hatte, konnte mir dann nicht verkneifen, im Anschluss folgendes Bild zu zeigen:

Kanning Personalauswahl

Vor kurzem erschien nämlich eine Diskussion im Human Resources Manager über die Frage „Hat Intuition etwas in der Personalauswahl zu suchen?“ Und beim Argumentationseinstieg von Prof. Dr. Uwe Kanning habe ich herzlich gelacht. Er plädiert nämlich klar dafür, dass Intuition in der Personalauswahl nichts zu suchen hat. Und schreibt:

„Pro Jahr erscheinen mehr als 700 wissenschaftliche Publikationen zum Thema Personalauswahl, von denen so gut wie nichts in der Praxis ankommt.“ (Hervorhebung durch HZ)

Und als ich dieses Zitat brachte und noch ein wenig ausführte (wie jetzt gleich weiter unten), da blickte ich in teils erstaunte, teils aber auch hoffnungsvoll nickende Gesichter. Endlich jemand, der diesen Wahnsinn mal offen anspricht, war mein Eindruck. Und darum möchte ich den Gedanken jetzt hier mal zu Ende führen.

Personalauswahl über Anschreiben und Lebenslauf

„Den Einfluss von Bauchgefühl und Menschenkenntnis zurückdrängen“

ist ein Hammersatz, oder? Hier schreit jetzt jeder Personaler auf, weil er/sie denkt, der Mensch wird zurückgedrängt. Ich möchte hier nicht die Diskussion führen, welchen Platz Menschenkenntnis im gesamten Auswahlprozess habe sollte. Irgendwo wird sie immer auftauchen.

ABER ich möchte Ihnen klar und deutlich sagen, wo „Bauchgefühl und Menschenkenntnis (oder sollte ich sagen: „angebliche“ Menschenkenntnis?) definitiv NICHT hingehören! In die Personalvorauswahl!!! Und zur Sicherheit nochmal:

Personalauswahl über Anschreiben und Lebenslauf??? Absoluter WAHNSINN!

In der Personalvorauswahl wird nämlich vor allem eines: Geglaubt! Und zwar Dinge, die sich auch nicht mal halbwegs vernünftig aus dem vorliegenden Informationen (Lebenslauf, Anschreiben) valide ableiten lassen. Das ist vor allem nur nackter Glaube. Sätze, die ich regelmässig höre sind u.a.

  • „Ich denke nicht, dass der Bewerber Neukundenakquise kann. Der hat ja bisher nur Bestandskundenvertrieb gemacht. Das ist ja was ganz anderes.“
  • „Ich glaube, die passt nicht ins Unternehmen“
  • „Der will bestimmt nicht umziehen / reisen.“
  • „Ich glaube, der ist zu teuer. Den können wir nicht bezahlen“
  • „Schauen Sie mal das Foto, Zaborowski. Mit dem Foto bewirbt sich doch niemand, der es ernst meint.“
  • „Wo ist denn das Anschreiben?“

Und richtig schön wird es dann, wenn Stationen im Werdegang haltlos interpretiert werden.

  • „Der war schon bei xx, der ist versaut durch deren Unternehmenskultur“
  • „Die hat nur einen Bachelor, die ist bei uns intellektuell überfordert“
  • „Schauen Sie mal, der ist von (Markenfirma X) zu dieser unbekannten Klitsche gewechselt. Da muss doch was vorgefallen sein. Oder der will nicht mehr Gas geben. Den will ich hier nicht.“

Verstehen Sie mich nicht falsch – das kann alles sein! Aber niemand, wirklich niemand, kann das seriös aus einem Lebenslauf herauslesen! Niemand! Sie wissen nicht, warum jemand gewechselt hat. Sie wissen nicht, ob er/sie gut im bisherigen Job ist! Oder vielleicht doch lieber was ganz machen möchte und darin auch viel besser ist! Sie wissen nicht, warum jemand nicht weiterstudiert hat!

Und darum müssen Sie eines machen: Sie müssen die Menschen fragen! Sie müssen in den Dialog gehen. Sie müssen fragen: Warum haben Sie denn damals zu dieser Klitsche gewechselt? Macht Ihnen Bestandskundenvertrieb eigentlich Spaß? Wie würden Sie in der Neukundenakquise vorgehen? Warum haben Sie keinen Master mehr gemacht? Warum haben Sie zwei kurze Stationen im Ihrem Werdegang? Was war da los?

Personalauswahl Henrik Zaborowski

Vor kurzem hat Stefan Scheller das Thema mit „Ist das Bewerbungsanschreiben tot“ wieder aufgegriffen und das Anschreiben für durchaus sinnvoll befunden. Und Jo Diercks fragt, ob die klassische Bewerbung tot ist und empfiehlt bei allen aufkommenden Recruitinghypes und existierenden Methoden eine „differenzierte Betrachtung“. Und selbst Gilbert Dietrich findet das Anschreiben sogar wichtiger als den Lebenslauf.

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Alle drei von mir sehr geschätzte HR Kollegen / HR Blogger. Aber ich möchte trotzdem vehement widersprechen. Warum? Die Antwort dürfen Sie sich gerne selber geben. Ich stelle Ihnen eine ganz einfache Frage: Wie oft wurde ein etwas komplexeres Anliegen von Ihnen (also nicht: „Schatz, kauf bitte Kartoffeln“), das Sie schriftlich (per mail, whatsapp, Brief, Facebookpost, Beitrag in Communities etc.) kommuniziert haben, schon von anderen mißverstanden? Oder: Wie oft hatten Sie den Eindruck, Ihr Gegenüber hat Sie nicht genauso verstanden, wie Sie es gemeint haben? Oder, genauso schlimm: Wie oft haben Sie erst später gemerkt: Der andere wollte was ganz anderes wissen! Ich habe dem die „falschen Fragen“ beantwortet! Hätte ich doch seine Fragen gewusst!

Wie oft? Na? Sehr sehr oft, oder? Irgendeiner versteht es immer anders, als Sie meinen. Warum? Tja, ganz platt: Es ist einfach so. Kommunikation ist ein schwieriges Unterfangen. Und das, liebe Leute, ist Lehrstoff im 1. Semester BWL Studium! Und zwar aus gutem Grund.

Und weil Kommunikation so schwierig ist, sind auch Anschreiben und Lebensläufe nur Krücken. Ich lese so oft lange, vielschichtige Anschreiben. Und man müsste denken, damit ist eigentlich alles beantwortet. Und dann kommt der Fachbereich mit einer Frage, mit der niemand gerechnet hat. Und einer Interpretation, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Aber es ist so. Und der arme Bewerber kann nix dafür. Und im Lebenslauf steht genau die eine Info nicht drin, die dem Fachbereich besonders wichtig ist und die der Bewerber rausgelassen hat, weil er sie nicht so wichtig fand. Und schon wird wieder „geglaubt“: „Die kann das nicht. Sonst hätte sie es reingeschrieben.“ Hammer!

Personalauswahl – war noch nie leicht und wird es auch nie!

Es tut mir Leid, aber ich muss Ihnen die harte Wahrheit sagen: Personalauswahl war noch nie leicht. Und wird es auch nie werden. Versprochen! Die Unternehmen haben es sich in der Vergangenheit leicht gemacht, weil sie immer genug Bewerbungen hatten. Da mussten die Bewerber einen Wahnsinnsaufwand betreiben, um überhaupt am Glücksspiel Personalauswahl teilnehmen zu dürfen. Denn bei einem ungleichen Kräfteverhältnis liegt die Arbeit bei dem, der der „Schwächere“ im Markt ist! Das waren früher die Bewerber. Und jetzt? Tja, zumindest bei gesuchten Profilen sind es inzwischen die Arbeitgeber. Sorry! Jetzt müssen die sich wirklich etwas mehr Mühe geben. Und zwar nicht nur mit schönen Employer Branding Botschaften, schicken Karriereseiten, netten Events etc. sondern ganz operativ, bodenständig in der Personalvorauswahl.

Nicht um Sie zu ärgern, sondern um Ihnen zu helfen, gebe ich Ihnen noch einen wichtigen Hinweis mit: Erfolg oder Mißerfolg in der Vergangenheit ist KEIN Indikator für Erfolg oder Mißerfolg in der Zukunft! Sie müssen mir nicht glauben (dürfen Sie aber gerne). Glauben Sie halt Top Executive Beratern. Wie Leopold Hüffer:

„Zahlen, Daten und Fakten, selbst vorgewiesene und glaubhaft berichtete Erfolge sind nur bedingt aussagekräftig. Ein wenig zuverlässiger als Titel und Noten sind sie, aber noch immer keine Gewähr dafür, dass der Kandidat die Herausforderungen der neuen Aufgabe ähnlich gut oder besser meistern wird.“

Das heißt: Wenn Sie wissen möchte, ob ein Bewerber etwas kann, dann dürfen Sie das nicht (nur) aus der Vergangenheit ableiten. Sonden Sie müssen sich die richtigen Fragen oder Verfahren überlegen, um das herauszufinden. Sie müssen das tun! Nicht die Bewerber. Und dann müssen Sie sich fragen, ob Sie den Antworten glauben wollen oder nicht. Ich verrate Ihnen was: Ja, auch ich habe meine Vermutungen. Aber es ist ein gutes Gefühl (Sie sehen, es geht offensichtlich nicht ohne), wenn der Bewerber Ihnen im Gespräch entweder Ihre Vermutung bestätigt. Oder Sie eben mit etwas ganz anderem überrascht! Nur dann macht dieser Job doch Spaß, oder? Personaler sind doch immer so an Menschen interessiert. Und Fachbereiche suchen doch angeblich Persönlichkeiten (das ich nicht lache). Ja, dann müssen Sie sich auch auf diese Persönlichkeiten einlassen. Und das können Sie in 95% der Fälle nicht nur über einen Lebenslauf abfackeln. Unmöglich!

Ich hatte genau zu diesem Thema letztes Jahr am ZWW der Uni Augsburg einen Vortrag gehalten.

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Mehr Informationen

Und mich anschließend mit einem Geschäftsführer unterhalten, der meinte, er wolle das mal ausprobieren. Jetzt, nach einigen Monaten, schrieb er mir eine mail. Er war begeistert! Mehr Einstellungen. Und vor allem hat er Menschen eingestellt, die eigentlich sofort eine Absage bekommen sollten. Es funktioniert also wirklich. Unglaublich, oder? 🙂 Aber dazu gibt es mehr Infos ein einem anderen Artikel. Versprochen. Noch mehr zu den Social Recruiting Days 2016 gibt es übrigens u.a auf personalblogger vom Michael Witt!

Also, viel Spaß beim Telefonieren. Und vielleicht bis bald wieder auf einem der vielen Herbst HR Events?

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski