Der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther hat aus meiner Sicht eine für unsere Arbeitswelt richtungsweisende Keynote beim Personalmanagementkongress 2018 gehalten. Er sprach davon, dass wir als Gesellschaft uns gegenseitig nicht (mehr) als Objekte betrachten dürfen, sondern als das sehen müssen, was wir sind und sein wollen: Subjekte! Das Ganze kommt mir sehr bekannt vor. Und ich kann Dr. Hüther nur zustimmen. Wissend, dass wir meilenweit davon entfernt sind. Ein paar Gedanken dazu mit Fokus auf unserem Recruiting (und natürlich den ganzen Vortrag zum Ansehen) gibt es in diesem Artikel. Viel Spaß!

Selbstorganisation und Potenzialentfaltung

Hier kommt erstmal die komplette Keynote von Dr. Gerald Hüther. Ab Minute 15 wird es richtig relevant:

Hüther nennt zwei Schlüsselbegriffe für das 21. Jahrhundert: Selbstorganisation und Potenzialentfaltung. Hüther meint, wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass „die Dinge machbar sind, dass man sie organisieren kann“. Damit hat er absolut Recht, denn das Leben lässt sich nicht organisieren. Dieser Gedanke ist allerdings ein absoluter Paradigmawechsel in unserer Arbeitswelt und unseren Managementtheorien. Unsere Arbeitswelt lebt von dem Glauben, dass wir Leistung und Erfolg der Ausarbeitung und erfolgreichen Umsetzung eines Plans verdanken und (scheinbar zwingend) ganz konkreten Personen zuordnen (können müssen). Und nicht dem Zufall, dem Glück oder den Umständen. Wir rechnen ja auch ganz selbstverständlich das, was wir sind und können, uns und unseren Fähigkeiten zu. Das stimmt aber nicht, wie Hüther ganz charmant eigentlich in einem Nebensatz aufzeigt. Alles was wir sind und haben, sind und haben wir von anderen! Von Vorbildern. Unser Leben verdanken wir unseren Eltern. Ohne die wären wir nicht hier. Selbst laufen können wir nur, weil wir dafür Vorbilder hatten, wie Hüther betont. Sprechen nur, weil wir es von anderen gelernt haben. Wir betrachten uns gerne als „Einzelkämpfer“, die „ihres Glückes Schmied sind“. Aber ich darf Ihnen sagen: Das ist alles Quatsch. Auch wenn wir das nicht gerne hören. Ob wir intelligent sind oder dumm, gut oder schlecht erzogen (wie auch immer man das definiert), ob wir in einem Land mit guten Bildungsmöglichkeiten oder in einem Bergdorf in einem Entwicklungsland aufwachsen … all das haben wir nicht in der Hand. Wir sind „Produkte“ unserer Umwelt und Zeit. Ihr Erfolg hat mit Ihrer ureigenen Leistung sehr wenig zu tun. Für das meisten, was Sie können, können Sie nichts!

Aber in der Personalauswahl schauen wir nur auf Erfolg! Wir wollen die Person einstellen, die in der Vergangenheit erfolgreich war. Weil wir unterstellen (glauben!), dass die Person, die in der Vergangenheit erfolgreich war auch in Zukunft bei uns erfolgreich sein wird. Aber auch diese lineare Schlussfolgerung (besser: blinde Hoffnung) ist Blödsinn, wie ich und auch Top Management Experten wie Leopold Hüffer oder Eignungsdiagnostiker Dr. Rüdiger Hossiep hier im podcast immer wieder betonen. Abgesehen davon definiert jeder „Erfolg“ anders. Der Punkt ist (um wieder auf Hüther zurück zu kommen): Wir machen im Recruiting und Personalauswahl (und damit auch im weiteren Beruf) alle Menschen zu Objekten, die unsere Erwartungen, unsere Ziele erfüllen sollen. Dabei will jeder Mensch Subjekt sein! Und einen Wert für sich selbst haben. Auch ohne Leistung. Aber dass wir im Recruiting erst einmal alle Objekte sind, merken wir als Bewerber an der oft miesen Candidate Experience. In der der Recruiter Subjekt ist und das Vorgehen bestimmt. Und die Bewerber sich dran zu halten haben. Und z. B. bitteschön einen CV und ein Anschreiben verfassen sollen. In dem sie klarstellen, warum sie der/die Richtige für den Job ist und alle Anforderungen erfüllen!

Hüther meint, wir wollen und müssen aber Subjekte sein! Tja, ob sich diese Utopie in unserer Welt nochmal erfüllt? Ich habe Zweifel, aber auch ein wenig Hoffnung. Denn in der Komplexität unserer modernen Welt brauchen wir Menschen als Subjekte! Wir selbst müssen „Ermöglicher der Prozesse werden, die wir uns wünschen“, so Hüther. Stattdessen haben wir in den letzten 1000 Jahren vor allem ein Zusammenleben in Hierarchien entwickelt. Und ganz oben in der Hierarchie stehen die Menschen, die am besten andere zu Objekten (für das Erreichen ihrer Ziele und Vorhaben) machen können! Und sind deswegen so gut darin, andere Menschen zu Objekten zu machen, weil sie sich selber ihres eigenen Wertes nicht sicher sind. Aber genau die sind die Falschen für eine komplexe (Arbeits-)Welt, in der wir uns immer stärker hineinbewegen.

Wenn New Work keine (oder nur ganz wenig) Hierachie bedeutet, dann wird die Umsetzung von New Work noch ein weiter Weg. Denn zum Einen haben wir noch die falschen Personen im Management (und damit an der Macht, etwas zu ändern), zum Anderen haben wir noch keine wirklich funktionierende Alternative zum Zusammenleben gefunden. So zumindest Hüther.

Potenzial ist was anderes als Resource

Mir geht es aber auch noch um einen anderen Punkt. Hüther betont, dass Potenzial nicht dasselbe wie eine Resource ist. Eine Resource ist eine sich aus dem Potenzial entwickelte Leistung. Wir schauen immer auf die erbrachte Leistung, aber nicht auf das noch unentdeckte Potenzial. Das stimmt. Aber warum machen wir das? Meine Erklärung: Weil Potenzial unsicher und schwer zu erkennen ist! Und selbst wenn wir es erkennen wissen wir nicht, ob sich dieses Potenzial zu einer Leistung entwickelt. Also schauen wir nur auf „bewiesene Potenziale“ in Form von Resourcen. Jemand ist seit 5 Jahren Controller? Na, dann kann er das wohl. Dieser Beweis seines Könnens gibt uns Sicherheit. Ist natürlich auch Blödsinn, denn wir wissen immer noch nicht, ob derjenige ein guter Controller ist! Und ob er/sie ein guter Controller BEI UNS ist. Aber lassen wir das beiseite. Aber was ist mit dem Menschen, der/die das Potenzial „kann super mit Zahlen umgehen, Unregelmäßigkeiten entdecken und Zusammenhängen herstellen“ hat, aber noch nie im Controlling gearbeitet hat? Tja, keine Chance in unserer Personalauswahl. Höchstens als Absolvent, aber nicht mehr als Berufserfahrener. Und damit reduzieren wir nicht nur die Menge möglicher, passender „Bewerber“ für eine Stelle, sondern wir vernichten auch jede Menge möglichen Potenzials. Ein Trauerspiel.

Der spannende Punkt ist jetzt, warum es uns in der Regel gar nicht in den Sinn kommt, dieses Vorgehen zu ändern! Hüther hat eine Erklärung dafür. Wir haben es so jahrelang gelebt und als erfolgreich / sinnvoll erlebt (schließlich haben wir unsere Stellen besetzt bekommen) und dieses Erleben hat unser Gehirn und damit unser Verhalten geprägt. Dieses Verhalten aufzugeben ist quasi unmöglich! Außer, wir erleben eine ganz andere Erfahrung, so Hüther.  Aber für so eine neue Erfahrung müssen wir uns erstmal auf ein neues Verhalten einlassen!

Was muss uns also gelingen, um uns Menschen in der Arbeitswelt endlich zu Subjekten zu machen? Wir müssen positiv erfahren, dass andere Auswahlmethoden auch oder besser funktionieren. Wir müssen mal 10 Bewerber einstellen, bei denen wir uns gemäß unserer bisherigen Auswahlstandards nicht 100% sicher sind und uns dann um sie kümmern, um dann festzustellen, dass 7-9 Bewerber einen richtig guten Job machen!  Früher brauchten wir das nicht, denn wir hatten immer genug Bewerber. Heute ist das anders. Heute müssen wir mutiger werden. Unsere alten Erfahrungen entlernen! Und klar machen, dass unsere bisherigen Auswahlkriterien absoluter Humbug waren und auch nicht besser sind als zu würfeln! Wir müssen uns auf Neues einlassen – und dann muss es natürlich auch funktionieren. Und das tut es auch. Natürlich nicht immer. Aber sehr oft.

Das Kernproblem ist die Summe an Erfahrungen! Bei allen neuen Interimprojekten oder Kunden gab es immer einen Schlüsselmoment für die Zusammenarbeit. Nämlich wenn ich das erste Mal einen Bewerber vorgeschlagen haben (besser: mich richtig für ihn aus dem Fenster gelehnt habe), der auf dem ersten Blick nicht für den Job passte. Wenn der Manager mir dann vertraut hat und den Bewerber zu einem Gespräch einlud, habe ich immer gezittert. Ist der Bewerber wirklich so gut wie ich denke? Wenn ja, dann werde ich in Zukunft auch weitere Bewerber vorstellen können, die auf dem ersten Blick nicht so gut passen. Weil der Manager eine positive Erfahrung gemacht hat. Wenn nein, brauche ich nicht so schnell wieder mit einem „B-Kandidaten“ ankommen.

Gleiches gilt für Einstellungen. Ich kenne einige Manager, die mir immer wieder sagten: „Ich hab schon mal einen eingestellt, von dem ich nicht 100% überzeugt war. Und das hat dann auch nicht funktioniert. Das mache ich nicht mehr“. Ja, aber das war dann in der Regel einer, und das war vor 5 Jahren! Hätte er 10 eingestellt, von denen er nicht 100% überzeugt war, hätten 8 mit Sicherheit einen guten Job gemacht.

Also, Hüther hat Recht. Wir müssen neue Erfahrungen machen. Anders wird es nicht gehen. Bis wir Menschen in unserer Arbeitswelt wirklich als Subjekte sehen, muss „New Work“ noch eine Menge Überzeugungsarbeit im Management leisten. Zu #newwork startet die hkp Group übrigens eine kleine Aktion / blogparade. Ist vielleicht auch für Sie interessant?

 

Ich selber versuche, mit Liza for Jobs diese Erfahrungen zu ermöglichen. Und im zweiten Halbjahr werde ich einige Vorträge zu dem Thema halten. Vielleicht sind Sie ja bei einem dieser Events dabei?

Also, ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, vielleicht heute für einen Bewerber einen Unterschied zu machen und ihn/sie vom Objekten zum Subjekten zu „verwandeln“ 😉 Wir sind keine Rolle, sondern Menschen. Aber das wissen Sie ja 😉

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski