Größenwahn

Größenwahn

Viele von uns haben es sicherlich schon geahnt, DIE ZEIT hat es jetzt in ihrem Artikel „Irre erfolgreich“ lesbar gemacht. Zitat „In den Führungsetagen von Unternehmen finden sich dreieinhalbmal so viele Psychopathen wie im Durchschnitt der Bevölkerung …“ Danke dafür, liebe ZEIT. Denn jetzt können wir uns Montagsmorgen aufmunternd zurufen: „Auf ins Büro – wo die Psychopathen warten!“

Die Frage ist allerdings, hilft uns dieses Wissen weiter? Auf den ersten Blick sicher nicht, denn ändern werden wir „normale“ Menschen die „gestörten“ nicht. Aber es ist gut von dieser Realität zu wissen und sie benennen zu können. Ob unsere Welt nun von den Menschen, die zwischen Genie & Wahnsinn schwanken, profitiert oder nicht, möchte ich nicht beurteilen. Tatsache ist, dass die meisten Mitarbeiter unter solchen Chefs leiden. Und zwar erheblich. Aber nicht alle Chefs müssen gleich psychisch krank sein, um als Führungskraft unbrauchbar zu sein. Wir kennen denke ich alle genug Führungskräfte, die uns nicht begeistern, denen wir aber wohl kaum das Schild „Psychopath“ um den Hals hängen würden. Auch wenn sie Züge davon zeigen. DIE ZEIT beschreibt Psychopathen wie folgt: „Ihnen fehlt jedoch jegliche Empathie, und sie scheuen soziale Verantwortung. Dabei neigen sie sehr stark zu impulsiven Reaktionen. Sie verspüren Genugtuung, wenn sie andere Menschen manipulieren und kontrollieren können.“

Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor, wenn auch in abgeschwächter Form? Dass „die da oben“ zu weit weg sind von der Basis im Unternehmen, ist eine häufig gehörte Klage der Mitarbeiter. Auch wenn unser bisheriges Wirtschaftssystem und Verständnis von Erfolg manche Menschen in dieser Entwicklung „fördert“ – wir sollten wissen, dass theoretisch fast jeder von uns so werden kann. Wie ich darauf komme? Nun, erst mal eine kleine Frage: Was erwarten Mitarbeiter von ihrem Chef? Dass er sie einbindet, Entscheidungen klar kommuniziert, motiviert und Anerkennung äußert. Also eigentlich auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch, agiert.

Nun macht sich in der Wirtschaft Führungsverantwortung und Erfolg ja immer auch finanziell bemerkbar. Die Erfahrung, und vor allem wissenschaftliche Studien, zeigen aber leider sehr deutlich, dass Geld jeden von uns von seinen Mitmenschen distanziert (siehe dazu u.a. „Schnelles Denken, langsames Denken“ Seite 75, Daniel Kahneman). Selbst der bloße Anblick von Geldscheinen auf dem Computermonitor führt schon dazu, dass wir uns von Mitmenschen distanzieren. Zumindest ein wenig und für kurze Zeit. Wahnsinn, oder? Eine erfolgreiche Person (die aufgrund ihres Erfolges sehr wahrscheinlich auch Führungskraft wird/ist und einige Kohle verdient), kann sozusagen gar nichts dafür, dass es sie am Ende nicht mehr interessiert, wie es ihren Mitarbeitern geht. „Was habe ich mit denen zu tun? Die stören doch eh nur.“ Das scheint sehr menschlich zu sein.

Lässt sich etwas gegen diese „Verwandlung“ tun? Nun, rein menschlich betrachtet würde ich sagen, erfolgreiche Menschen sollten erlebt haben, wie es ist, nicht erfolgreich und auf andere angewiesen zu sein. Damit sie ein wenig demütiger und barmherziger durch ihr Leben laufen. Warren Buffett, der von der Welt für seinen Erfolg bewundert wird, hat verstanden, dass er nicht allein seines Glückes Schmied ist. Er bekannte in einem Interview ganz ehrlich „Ich hatte Glück“. Denn: Es hängt viel mehr am Zeitpunkt, Zufall und Glück als an unserer eigenen Leistung, ob und wie sehr wir erfolgreich sind. Schauen wir uns das doch mal genauer an. 

Nehmen wir mal den Job eines Vertrieblers. Waren Sie in den 60er und 70er Jahren Vertriebler bei IBM, Nixdorf oder HP brauchten Sie bei der Telefonakquise nur den Firmennamen nennen – und Sie bekamen einen Termin bei der Geschäftsführung. Sie konnten nicht viel falsch machen, jeder wollte diese neue Dinger, die Computer genannt wurden. Versuchen Sie das jetzt nochmal, vierzig Jahre später … Hat das was mit Ihrer Leistung zu tun? Anderes Beispiel: Sie machen Vertrieb in einer Branche mit hohen Umsätzen pro Auftrag, z. B. der IT-Beratung. Je nach Größe des Unternehmens, der genauen Dienstleistung und der Zielbranche werden Sie zwischen 80-130T Euro verdienen (können). Jetzt machen Sie den inhaltlich gleichen Job für einen kleinen SW-Anbieter mit Zielkunden KMUs. Sie werden deutlich weniger verdienen. Der Job ist aber der Gleiche. Aber hat der Gehaltsunterschied mit Ihrer Leistung zu tun?

Ich könnte prominenter weitermachen: Wer profitierte vom Aufstieg des PCs in den 70iger Jahren? Ja, alle die die Chance erkannte, clever waren und hart arbeiteten. Aber Sie mussten auch zur richtigen Zeit (um 1975) alt genug, aber auch nicht zu alt gewesen sein. Beweise? Hier die Geburtsjahre einiger Berühmtheiten der „PC Welt“ Bill Gates – 1955, Paul Allen – 1953, Steve Ballmer – 1956, Steve Jobs – 1955, Eric Schmidt (Novell, Google) – 1955, Bill Joy (Mitbegründer von Sun) – 1954. Wer an Computer interessiert, aber z. B. schon 1949 geboren war, saß 1975 sehr wahrscheinlich gut bezahlt bei IBM an den Großrechnern und war nicht mehr hungrig genug für diese neue Welle.

Es gibt noch einige Gründe mehr für unseren Erfolg oder Nicht-Erfolg. In Kanada sind z. B. fast alle Top Eishockey Spieler in der ersten Jahreshälfte geboren. Woran das liegt? Der Stichtag zur Zulassung für eine bestimmte Altersgruppe ist immer der 1. Januar. Kinder, die z. B. im Dezember geboren werden, spielen also mit Kinder vom Januar zusammen. Die sind aber körperlich den anderen 11 Monate voraus, was in dem Alter einiges bedeuten kann. Wer wird also besser spielen? Die Älteren. Und die werden dann auch entsprechend gefördert und werden noch besser. Sie sind vielleicht das größte Eishockeytalent aller Zeiten, aber wenn Sie im Herbst geboren wurden, ist die Wahrscheinlichkeit extrem gering, dass Sie jemals wirklich ganz nach oben kommen. Spannend, oder? Ich empfehle Ihnen zu dem Thema das Buch „Überflieger“ von Macolm Gladwell.

Wir müssen also jetzt auch mal ehrlich sein und uns, falls wir zu den „Erfolgreichen“ gehören, fragen, was von unserem Erfolg direkt uns zuzurechnen ist. Und wo wir von den Umständen, unserer Erziehung, unserer Geburt oder auch dem richtigen Förderer zur richtigen Zeit profitiert haben.

Kommen wir nochmal zurück zu der Frage, wie ich als Führungskraft verhindern könnte, ein Egoist zu werden. Neben der Erfahrung von Niederlagen schadet es nicht, vielfältig interessiert zu sein, um Menschen kennen zu lernen, die vielleicht ganz anders ticken als man selbst. Um dann festzustellen, dass es auch andere Sichtweisen auf das Leben gibt. Dafür muss ich im Zweifel ein paar Umwege gehen, mal etwas ausprobieren, Zeit verstreichen lassen.

Das Problem ist nur, dass wir in unserer Wirtschaft so „jemanden“ nicht haben wollen. Stellen Sie sich vor, auf einen Job bewerben sich zwei Absolventen. Der eine erfüllt alle Klischees: Top Noten, Regelstudienzeit, Ausland etc. Der andere hat sein Studium nach zwei Jahren abgebrochen, weil es ihn nicht mehr interessierte, nochmal studiert, aber noch nicht mal in Regelstudienzeit. Stattdessen ein halbes Jahr ein krankes Familienmitglied gepflegt, noch andere Kurse aus Interesse belegt, wodurch die Noten im Hauptstudium schlechter wurden. Nun, wer kriegt wohl den Job? Genau! Und dann wundern wir uns über fehlende Querdenker und mangelnde Menschlichkeit auf der Arbeit? Wo soll sie denn herkommen?

Es kommt noch etwas anderes hinzu, was uns nicht gefallen wird. In einem Experiment an der Bonner Uni sollten Studenten als Käufer und Verkäufer Preisverhandlungen über eine lebendige Maus führen. Es ging um zwanzig Euro. Konnten sich beide darauf einigen, wie sie das Geld untereinander aufteilen, musste die Maus sterben. Einigten sie sich nicht, blieb die Maus am Leben. Das Ergebnis schockierte die Fachwelt. In 90% der Fälle musste die Maus sterben. Ein Fazit ist „dass viele Akteure im Marktgeschehen gegen ihre eigenen moralischen Standards verstoßen … Der Markt verführt uns zu unmoralischem Handeln. Was wir alleine im Traum nicht tun würden, das nehmen wir als Marktteilnehmer oft ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf.“ Als erfolgreicher Manager denke ich wahrscheinlich: „Na, wenn ich die Entlassungen/Lohnkürzungen/Betriebsschließung nicht vornehme, muss ich gehen. Und dann setzt mein Nachfolger die Maßnahmen um. Also kann ich es auch selber machen und die Karriereleiter weiter nach oben gehen“.

Sind wir vielleicht alle gar nicht so gut wie wir glauben wollen? Auch das wäre ja eine Erkenntnis, die uns ein wenig verständnisvoller und demütiger machen könnte (kennt überhaupt noch jemand das Wort „demütig“?).

Wir haben es also mit Mächtigen (im Zweifel den Psychopathen) zu tun. Mit ganz normalen Menschen, die einfach ihren Job machen. Und mit Menschen, die in Augen mancher Mächtiger nur Mäuse sind. Und jeder von uns steht in der Gefahr, selber so zu handeln wie die Mächtigen. Ganz schön deprimierend.

Aber, hey, wir haben die Wahl: Wir sind Menschen mit einem eigenen Willen. Wir können etwas verändern. Wenn ich nicht gerade tatsächlich unheilbar physisch krank bin. Wobei: Als psychopathischer Chef könnte ich die Mitarbeiterführung komplett abgeben. Und mir Führungskräfte dazu holen, deren Meinung ich schätze und die mir Contra geben. Auch Mitarbeiter können etwas tun. Was allerdings Mut erfordert. Mein Eindruck ist, dass viele Führungskräfte nur deswegen überhaupt durchkommen, weil ihre Mitarbeiter ungefragt die Fehler wieder ausbügeln. In vielen Fällen nur, damit „der Laden weiterläuft“. Ich würde da mal Parallelen zu Suchtkranken und ihren co-abhängigen Familienangehörigen ziehen. Die halten den Schein aufrecht, den Laden am Laufen – und der Kranke merkt dadurch vielleicht erst sehr spät, wie es wirklich um ihn steht. Wenn alle Mitarbeiter mit den Füßen abstimmen würden und bei einer schlechten Führungskraft einfach kündigen – dann würde aber ein Ruck durch die Führungsetagen gehen. Aber das ist wahrscheinlich noch Illusion, so viele freie Jobs für jeden gibt der Markt trotz Demografischen Wandel nicht her. Oder? Die Frage möchte ich trotzdem jedem Mitarbeiter stellen, der unter seinem Chef leidet: Wie weit können Sie gehen? Bleiben Sie, weil Sie wirklich müssen? Oder weil Sie schon co-abhängig sind? Und für alle Führungskräften schließe ich mich dem Ratschlag meiner geschätzten Blogger-Kollegin, Alexandra Götze, in ihrem offenen Brief an … die Generation Y an:

Für die Führungskräfte bleibt die Herausforderung, den eigenen Führungsstil genau unter die Lupe zu nehmen. Reflexionsarbeit ist angesagt – und die Arbeit an einem eigenen (werteorientierten) Berufsleitbild. Wenn es darum geht, die Individualität unserer Mitarbeiter zu fördern und zu akzeptieren, kann das nur funktionieren, wenn klar ist, für was man selbst (ein)steht. Führungskräfte müssen für sich die Frage beantworten, wie sie führen und wirken wollen. Es wird auch darum gehen, sich die eigenen Fehler einzugestehen und – für mich persönlich wohl das Wichtigste – nicht aufzuhören dazuzulernen!

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Psychopathen.

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski