Was ist Recruiting? Haben Sie, liebe Recruiter, sich schon mal diese Frage gestellt? Ich meine nicht die „technische“ Frage, was alles zum Recruiting dazugehört. Ich meine den Kern, ganz tief im Inneren. Was machen wir da eigentlich im Recruiting? Ist das sinnvoll? Lässt sich das messen? Wirklich? Sollten wir es messen? Wie komme ich eigentlich darauf? Nun, vor ein paar Tagen hat mir jemand eine Frage gestellt: „Was ist ein Bewerber wert?“ Dahinter steckte eigentlich die Frage, „was darf ein Bewerber kosten?“. Denn der Wert eines Bewerbers ergibt sich ja eigentlich erst aus dem Wert, dem er/sie später als Mitarbeiter/in dem Unternehmen bringt. Naja, und als ich dann darüber nachdachte, ergab sich für mich gleich die nächste Frage: Was ist ein Recruiter wert? Nicht ganz unbedeutend für „unsere Zunft“, oder? Oder muss ich auch richtiger fragen: Was darf ein Recruiter kosten? Bevor wir aber erstarren bei diesem Gedanken, reichen wir die Frage doch mal schnell weiter: Was sind eigentlich die ganzen Recruiting- & Employer Branding Maßnahmen und die Recruitingdienstleister wert, die von Recruiter so losgetreten bzw. beauftragen werden? Was dürfen die kosten?

Okay, bevor ich mich verzettel, also: Was ist Recruiting (wert)? Ist das eine philosophische Frage? Oder eine ökonomische? Ich bin mir nicht sicher. Manchmal habe ich den Eindruck, Recruiting ist eine Religion. Ich habe in den letzten Wochen so zahlreiche spannende Gespräche mit Personalern / Recruitern geführt, dass ich eigentlich viel schlauer sein sollte – und bin doch nicht mal mehr „so klug als wie zuvor“. Mir scheint, jeder von uns lebt in seiner eigenen kleinen „Recruiting-Illusion“.

Was ist Recruiting? Meinen wir alle das selbe?

Ich habe die letzten Wochen mit dutzenden Recruitern, Personalern, Personalberatern, Researcher und HR Beratern gesprochen. Meine Erhebungen der letzten Wochen sind defintiv nicht repräsentativ, trotzdem möchte ich Sie gerne auf eine kleine Reise durch die deutsche Recruitinglandschaft mitnehmen und Ihnen Dinge offenbaren, die Sie zutiefst erschüttern werden! Naja, ok, das ist vielleicht etwas dick aufgetragen 🙂 Aber bisher dachte ich, wenn wir von Recruiting (und „state of the art“ Recruiting) reden, dann reden wir alle in etwa vom Selben. Zumindest hören sich alle so an. Aber da habe ich mich mächtig getäuscht (falls Sie das nicht überrascht, sind Sie wahrscheinlich nicht so naiv wie ich). Ich gebe Ihnen ein drei Beispiele in sehr relevanten (sollte man meinen) Recruitinghandlungsfeldern, deren Bedeutung breit variiert und die auch ganz unterschiedlich „tief“ beherrscht werden.

– Erfolgsmessung von passiven Recruitingkanälen: Ein alter Hut, sollte man meinen, das müssten doch eigentlich alle können – und alle auf etwa dem gleichen Stand sein. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Da sind Recruiter, die interessiert gar nicht, welche „passiven“ Kanäle (z. B. welche Jobbörse oder Kampagne) gut funktionieren. So lange insgesamt genug Bewerber kommen. Dem entsprechend ist der Wunsch, hier etwas zu optimieren, gleich null. Andere sagen, es würde sie brennend interessieren, aber sie wissen nicht, wie sie das herausfinden sollten. Noch andere sagen, es interessiert sie auf jeden Fall, sie kriegen es zum Teil auch hin – aber so ganz genau weiß man es ja doch nie. Weil Bewerber z. B. durch eine Offline Kampagne auf das Unternehmen aufmerksam werden, sich bewerben und als Quelle dann „Karriereseite“ angeben. Und ganz andere schwören Stein und Bein, dass sie jede (wirklich jede!) einzelne Bewerbung nachvollziehen können  – und wie ich denn darauf komme, diese Aussage anzuzweifeln?

– Operative Kandidatenbeschaffung:
Die Frage „wie komme ich an die besten Kandidaten“ sollte eigentlich jeden Recruiter umtreiben. Tut es aber irgendwie nicht. Stattdessen scheinen die meisten ihre Standards zu haben, ohne weiter darüber nachzudenken. Hängt vielleicht auch mit dem Punkt „Erfolgsmessung“ zusammen. Die einen warten auf Bewerbungen, andere lassen immer über ihre Agentur Anzeigen schalten. Wenn der Erfolg ausbleibt, wird noch mal woanders geschaltet. Wenn das auch nichts bringt, wird der Personalvermittler/-berater des Vertrauens (oder irgendeiner) eingeschaltet. Wenn der nichts bringt, ein weiterer (oder gleich mehrere parallel). Was die aber genau machen und ob deren Weg der Kandidatensuche der Richtige ist, weiß auch keiner so wirklich (Erfolgsmessung ….) Andere Recruiter setzen auf das Thema Active Sourcing. Aber ist es jetzt richtig, dass der „Junior“ das macht? Sollte das nicht der Recruiter mit 20 Jahren Erfahrung machen? Oder umgekehrt, weil der Erfahrene dafür eigentlich zu teuer ist? Das kann doch jeder. Oder vielleicht sogar der Fachbereich? Und wieviel Zeit investiere ich dafür? Ist das angemessen? Und sind 10 gefundene Kandidaten eine gute Quote? Oder müssten es für diese Position nicht 30 sein? Wer weiß das schon? Eben.

– Employer Branding: Zumindest alle HR Berater sind sich einig, dass ohne Employer Branding nichts mehr geht. Aber die Recruiter nicht.  Wieviel Aufwand und Geld muss ich in das Employer Branding stecken – und was bringt es mir? Eine schwer zu beantwortende Frage. Die einen machen gar nichts („ich biete einen Job, reicht das nicht?) oder fast nichts („ich bekomme noch genug Bewerbungen“), die anderen nutzen jede noch so kleine Maßnahme – und wieder andere halten ihr Employer Branding Engagement ganz bewusst klein, weil es nicht so aussehen soll, als ob sie „verzweifelt auf Bewerbersuche sind“. Auch eine spannende Einstellung, oder? Ganz andere „schimpfen“ innerlich über die Bekanntheit ihres Arbeitgebers, weil sie in Bewerbungen ertrinken und diese Massen die Bearbeitung erschweren. Jeder hat halt seine eigenen Probleme.

 

Was ist Recruiting? Eine Philosophie?

Wie kommt es, dass alle Recruiter (und Personalreferenten mit Recruitingauftrag) mehr oder weniger den gleichen Job machen – und doch teilweise komplett unterschiedliche Schwerpunkte setzen, allein auch schon in dem Verständnis, was geht und was nicht, und in der Motivation, einzelne Aspekte zu verbessern? Aufgefallen ist mir z. B. auch, dass gerade jüngere Recruiter eine viel stärkere, fast schon idealistische Beziehung zu ihrem Job haben, verbunden mit einer hohen Motivation, durch eigenes Handeln ein tolles Ergebnis hinzubekommen. Je erfahrener der Recruiter war, umso … tja, wie nenne ich es … umso pragmatischer, „relativer“ sah er/sie den Job. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich pauschal nicht beurteilen. Der Punkt ist: Alle haben ihre Jobs als Recruiter oder Recruiting Manager ja noch! Also bringen entweder alle mit unterschiedlichen Methoden und Expertisen ein gleich gutes Ergebnis – oder ich muss feststellen, dass „man“ auch als mittelmässiger Recruiter mit schlechtem Ergebnis einen entspannten Job haben kann. Entweder weil „man“ sich einfach gut verkauft oder weil das Recruiting niemanden im Unternehmen interessiert oder weil das Management eh nicht beurteilen kann, ob „man“ als Recruiter einen guten oder schlechten Job macht. Umgekehrt lässt sich allerdings auch feststellen, dass gute Recruiter sich für ihre Arbeit rechtfertigen müssen, eben weil das Management keine Ahnung hat, ob der Recruiter einen guten oder schlechten Job macht.

Bevor ich also demnächst auf die Frage eingehe, ob Recruiting nun ökonomischen Grundsätzen folgt oder eine Religion ist, lassen Sie mich mit einer etwas philosophischen Betrachtung das Thema vorwärmen. Auch wenn es Sie jetzt schockt oder desillusioniert, möchte ich Ihnen  die beiden Tatsachen mitgeben, die mich das Leben sowie 13 Jahre Recruitingerfahrung „an der Front“ gelehrt haben:

1) Sie können alles richtig machen – und haben doch nie eine Garantie, den perfekten Bewerber zu bekommen (diese Aussage würde ich sogar vor dem Obersten Gerichtshof noch verteidigen, weil sie absolut wahr ist. Auch wenn Ihnen sämtliche Personalberater oder auch Sie selber sich das vorlügen. Aus Platzgründen gehe ich jetzt aber nicht näher darauf ein).

2) Sie können fast alles falsch machen – und bekommen doch einen Top Bewerber, den Sie sich eigentlich nicht verdient haben (auch das ist eine Tatsache, auch wenn sie seltener vorkommt und ich sie nicht vehement verteidigen würde).

Zwischen diesen beiden Extremen lebt ein Recruiter – und die Guten wissen das auch. Warum ist das so? Weil Recruiting an Menschen „hängt“. Und diese Menschen ganz unterschiedlich ticken, in unterschiedlichen Umfeldern/Situationen leben – und diese sich permanent ändern können. Manches ist vom Menschen selber verursacht, manches liegt nicht in seiner Hand. Ein paar Beispiele?

  • Die letzten 10 Jahre habe ich keinen neuen Job gesucht. Morgen bekomme ich betriebsbedingt meine Kündigung – und bin offen für Jobs und Ansprachen.
  • Seit vier Monaten sichte ich Jobangebote und schreibe Bewerbungen. Erfolglos. Aus Frust mache ich vier Wochen Pause … in der mein Traumjob ausgeschrieben wird.
  • Heute unterschreibe ich meinen neuen Arbeitsvertrag in einer neuen Stadt – in zwei Wochen verlässt mich mein Partner, für den ich in die neue Stadt ziehen wollte.
  • Vor sechs Monaten war ich auf einer Recruitingmesse. Heute Abend greife ich zu einem Buch, dass ich vor fünf Monaten angelesen hatte … und  entdecke die Visitenkarte des einen Unternehmensvertreters von der Messe als Lesezeichen in dem Buch wieder. Ich schaue mir nochmal die Karriereseite an, finde einen spannenden Job – und bewerbe mich.
  • Normalerweise ruft der Recruiter jeden Bewerber zurück, der darum bittet. Diese Woche hat er echt Streß, ist in noch mehr Terminen als sonst. Die Liste von Rückrufbitten wird immer länger. Am Ende der Woche entscheidet er sich, die Liste zu vernichten. Er schafft es eh nicht. Und wer wirklich Interesse hat, der meldet sich nochmal. Der beste Bewerber hatte von unterwegs angerufen, war selber im Stress,  verliess sich auf den Rückruf des Recruiters – und vergisst das Ganze wieder.
  • Vor einem Jahr gab ich einem Personalberater auf der Cebit meine Visitenkarte. Nur so nebenbei. Heute ruft er mich an, mit meinem Traumjob. Er hatte sich nur noch ganz grob an mich erinnert und ist alle Visitenkarten in seiner Schublade durchgegangen, bis er mich wieder gefunden hatte.
  • Seit zwei Wochen ist die Recruiterin im Urlaub. Ihr Kollege hat selber genug zu tun. Er sichtet „ihre Bewerbungen“ nebenbei. Dabei entgeht ihm ein Top Bewerber, der sich schlecht verkauft und deshalb nicht sofort als „top“ erkannt wird. Er bekommt eine Absage. Die Recruiterin wird nie davon erfahren.

Muss ich weitermachen? Und ich kratze hier immer noch an der Oberfläche, nämlich dem Finden! Später, für das „Gewinnen“, kommen ja noch weitere Menschen, wie der potentielle neue Chef dazu. Und die neuen Kollegen. Und das Gehalt. Und der Lebenspartner. Und evtl. die Kinder usw. Ein Wahnsinn!!! Nichts, was nach dem „Finden“ kommt, hat mit Ihnen als Recruiter zu tun! Nichts, was nach dem „Finden“ kommt, können Sie beeinflussen. Sie können moderieren, dran bleiben, nett sein, mit Engelszungen reden, 24 Stunden erreichbar sein, ein Machtwort sprechen, sie können tricksen, täuschen oder einfach die Wahrheit sagen. Aber mit der Entscheidung für oder gegen den Job/Bewerber, haben Sie als Recruiter nichts mehr zu tun. Das ist eine Tatsache!

Man könnte also zu der Erkenntnis kommen, dass Recruiting ein reines Zufallsgeschäft ist. Und damit alle Bemühungen des Recruiters eher philosophischer Natur sind. Glücklicherweise spielt das Leben uns Recruitern in die Hände: Denn die meisten Menschen müssen arbeiten, um ihre Brötchen zu bezahlen. Und damit ist das Potential extrem groß. Irgendeiner – sogar eine Top Fachkraft – braucht und sucht immer einen Job. Das ist übrigens die einzig wahre Grundlage unserer Profession. Sonst wären wir Recruiter arbeitslos!

Wir haben also als Recruiter selber ganz schön wenig im Griff. Eigentlich. Tatsache ist aber, dass wir eben doch sehr viel beeinflussen können, nämlich die Art der Suche und der Ansprache und dem Umgang mit dem Bewerber etc. Da stehen uns Recruiter mächtige Hebel zur Verfügung. Das Ergebnis können wir aber nie vorhersagen.

Was denken Sie? Ist Ihnen das zu philosophisch? Dann warten Sie auf den nächsten Artikel zu dem Thema – oder kommentieren Sie schon jetzt! Und darf ich mal fragen: Was ist Ihnen eigentlich „ein Bewerber wert“?

Herzlichen Gruß,

Ihr Henrik Zaborowski