Richtig bewerben? Vergessen Sie es! Vergesst Bewerbungen! Das ist mein Ernst. Sollte es „da draussen“ immer noch Menschen geben, die glauben (und behaupten) es gebe die perfekte Bewerbung und (fast genauso schlimm) Recruiting sei ein nachvollziehbarer, kontrollierbarer und objektiver Prozess, denen rufe ich zu: „Hört auf! Erzählt nicht so einen Blödsinn!!“ Denn abgesehen davon, dass ich unwahre Behauptungen einfach nicht mag, haben diese Lügengeschichten auch noch eine verheerende Wirkung. Nämlich auf die armen Bewerber, die das Märchen von der richtigen Bewerbung  und dem „objektiven, vollkommenen Recruitingprozess“ glauben und die Schuld für die unerklärlichen Absagen bei sich suchen. Euch möchte ich heute in aller Deutlichkeit sagen: Es ist nicht Eure Schuld!!!

Richtig bewerben in der Praxis? Dramatisch!

Vor zwei Wochen konnte mich Chris Pyak, Gründer von ImmigrantSpirit mit seiner unnachahmlichen Art spontan für ein Interview auf Englisch über das Recruiting in Deutschland für seinen PodCast überreden (ich frage mich immer noch, wie ihm das gelungen ist, Respekt). Und da warteten sie dann, die top ausgebildeten Menschen aus aller Welt, die in Deutschland einen Job suchen und nun Antworten von mir erhofften, warum das scheinbar unmöglich ist. Wo doch alle fachlichen Anforderungen (und Erfahrungen), zum Beispiel bei (scheinbar?) sehnsüchtig gesuchten Softwareentwicklern, vorhanden waren. Bis auf die Deutschkenntnisse … autsch. Willkommen in Deutschland. Aber das will ich hier nicht weiter ausführen. Und obwohl ich nur grobe, aber echte „basics“ nannte, warum das mit der Bewerbung in Deutschland nicht klappt, war das Feedback sehr positiv. Die Hörer waren dankbar, dass ihnen jemand mal ein paar Dinge erklärte. Und ich dachte: Wie dramatisch! Da sind hochintelligente Menschen, die mental an so etwas „einfachen“ wie einer Bewerbung in Deutschland verzweifeln. Oder besser gesagt: Die am Unerklärlichen verzweifeln! Was läuft da schief?

Dann schrieb Ulrich Jordan im Human Resources Manager in „Erst einmal die Basics, bitte“ über die (miese) Bewerbungserfahrung seine Patenkindes. Und berichtet über Erfahrungen, die niemanden, der sich selbst mal mit Bewerbungen auseinander gesetzt hat, überraschen dürften. Insider (also Recruiter) sollten diese Berichte überhaupt mal gar nicht überraschen. Alles schon tausendmal gesehen.

Dann bekam ich letztes Wochenende eine Nachricht über XING von einem Personalvermittler mit einem Jobangebot, das auf mich passte. Naja, wenn Sie davon ausgehen, dass, wenn ein Wort aus dem Jobtitel auch auf meinem XING Profil zu finden ist, ich den Job kann und will. Der Job passte aber eben nicht und der Nachrichtentext war nett, aber auch komplett allgemein, massentauglich und damit nicht individuell. Macht nix, ich bin da niemanden böse (warum, lesen Sie weiter unten). Aber der Job (übrigens bei einem der ganz ganz großen namhaften Konzerne in Deutschland) passte perfekt auf jemanden, den ich kenne und von dem ich weiß, dass er wechseln möchte. Also: Info weitergeleitet und das schöne Gefühl gehabt, etwas Gutes zu tun. Ca. 5 Minuten lang. Dann kam nämlich schon die Antwort. „Habe ich mich vor vier Wochen drauf beworben. Außer automatischer Eingangsbestätigung nichts mehr gehört„. Also mal nach dem Job gegoogelt und bei einer namhaften Jobbörse gefunden. Die Anzeige ist dort seit Anfang Dezember veröffentlicht. Jetzt also mal langsam: Der Job war sechs Wochen online, dann bewirbt sich mein Kontakt (der aus meiner Sicht perfekt passt) dort und hört vier Wochen lang nichts. Dann (also etwa 10 Wochen nach Veröffentlichung) bekomme ich eine Nachricht von einem Personalvermittler mit genau diesem Jobangebot. Da scheint ja dringend der richtige Kandidat gesucht zu werden. Was ist da los?

Richtig bewerben? Geht gar nicht!

Und jetzt frage ich Sie: Was läuft hier falsch?

Bevor ich Ihnen die Antwort gebe, ein letztes Beispiel. Vor zwei Wochen sprach mich eine Kollegin auf meinem Interimprojekt an. „Henrik, mir hat der Herr X geschrieben. Er wartet seit zwei Monaten auf Deine Rückmeldung!“ Bäähm! Erwischt! Es lief mir kalt den Rücken runter. So etwas kann ich gar nicht haben. Da macht mich mein schlechtes Gewissen so fertig, dass ich ganz zittrige Hände kriege. So ein Fehler! Und das mir!!! Wo ich doch ganz viel Wert darauf lege, dass so etwas eben nicht vorkommt. Aber Sie können sicher sein: Das ist mir mit Sicherheit schon ein paar Mal in meinen 15 Jahren Recruitingpraxis passiert. Nur manche  Bewerber melden sich halt nicht mehr, darum fällt es mir dann nicht auf.

Ich werde Ihnen im nächsten Artikel ausführlich darlegen, warum es zu solchen Fällen wie oben beschrieben kommt. Aber hier möchte ich es schon mal auf den Punkt bringen. Es liegt am schwächsten Glied im (angeblich) klaren Recruitingprozess: Dem Menschen. Und weil wir genau diesen Menschen als Individuum nicht heraushalten können, ist jede Bewerbung ein Glücksspiel – und wird es auch immer bleiben.

Noch einmal, ganz deutlich, zum Mitschreiben:

Jede Bewerbung ist ein Glücksspiel!

Und darüber können Sie mit mir diskutieren, so viel Sie wollen. Und alle Leiter Recruiting, die von ihren Prozessen überzeugt sind und meinetwegen sogar Preise für ihren Recruitingprozess gewonnen haben, dürfen hier gerne kommentieren und auf ihr Unternehmen und ihre Jobs hinweisen. Ich werde Ihnen nicht widersprechen. Ich freue mich ja, wenn es so etwas wirklich gibt. Und wer bin ich, irgendjemandes Arbeit anzuzweifeln? ABER: Ich werde nicht einen Millimeter von meiner Meinung abweichen! Zum Einen, weil ich schon zu viel erlebt habe. Zum Anderen, weil Recruiting so gut wie unmöglich fehlerfrei laufen kann! Stolperfallen lauern quasi auf jeden Zentimeter der Prozessstrecke. Stecken Sie einen Menschen in den Prozess – und Sie öffnen den Fehlern und dem Versagen Tür und Tor. „richtig bewerben“ im Sinne von „so, das nichts schief gehen kann“ geht einfach so gut wie nicht.

Und wissen Sie was? Das ist einfach so. Und da können Sie und ich auch niemanden einen Vorwurf machen. Natürlich gibt es Unternehmen, die haben einen wirklich schlechten Recruitingstandard, an dem es definitiv etwas zu verbessern gibt. Und natürlich gibt es Unternehmen, die haben das Thema wirklich gut im Griff und dürfen darauf stolz sein. Aber ich garantiere Ihnen: Auch im besten Unternehmen passieren Dinge, die Sie einfach nicht verhindern können. Warum? Weil Menschen Fehler machen. Bewusst oder unbewusst.

Bewerbungen sind immer unvollkommen!

Und dazu kommt, dass eine klassische Bewerbung einfach Schwachsinn ist! Es gibt keine schlechtere Art, als zu versuchen, mit einem Lebenslauf und einem Anschreiben einen Job zu bekommen! Völlig ungeeignet! Komplett irrsinnig. Es ist auch völlig egal, dass diese Art der Bewerbung seit Jahrzehnten Praxis ist. Das macht es nicht richtiger! Hier wird geraten und interpretiert, dass es der wahre Horror ist. Auf beiden Seiten. Glauben Sie wirklich, Sie können als Recruiter durch die Sichtung von 2-3 Seiten (digitalem) Papier innerhalb von 10 Sekunden (Ergebnis wissenschaftlicher Studien) erkennen, ob jemand den Job kann und ins Unternehmen passt? Vergessen Sie es! Sie können es nicht! Trotzdem machen wir es. Wir alle. Was für ein Blödsinn. Und es funktioniert ja trotzdem irgendwie. Natürlich laden Sie als Recruiter Menschen ein, die passen können und am Ende auch tatsächlich passen. Aber wie vielen sagen Sie ab, obwohl sie passen (und Sie es nur nicht erkennen)?

Wenn Sie meine Meinung zu dem Thema interessiert und Sie zwanzig Minuten Zeit haben … auf meinem Vortrag bei den HR Excellence Days 2015 bin ich darauf eingegangen. Etwa ab Minute 9 wird es konkret.

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Und das ist ja noch das nächste Dilemma. Es macht ja nichts, dass Sie passenden Kandidaten absagen. Es bleibt ja (meistens) irgendeiner über, den Sie einstellen können, oder? Und hier muss man einfach sagen: Liebe Bewerber, es gibt den Job halt nur einmal. Oder meinetwegen auch 10 Mal bei einem Arbeitgeber. Warum solltest ausgerechnet DU ihn kriegen? Warum? Genau! Warum nicht auch ein anderer? Es gibt kein Recht darauf, diesen Job zu bekommen, nur weil ich es will. Da kann ich mich so lange richtig bewerben wie ich will.

Wissen Sie, diese ganze Situation, die ist nicht schön, aber sie ist ok. Wir leben in einer unvollkommenen Welt. Ich habe damit meinen Frieden gemacht. Haken dran. Es wird nie perfekt werden. Warum schreibe ich dann trotzdem diesen Artikel? Weil die meisten Menschen die ich kenne, sich immer noch richtig bewerben wollen … und aufgrund der ganzen Absagen an sich selbst zweifeln. Und mir immer wieder diese Szene aus „Good will hunting“ in den Sinn kommt und ich allen Bewerbern (und das sind im Zweifel auch irgendwann mal Sie, meine lieben Leser) zurufen möchte: Du kannst nichts dafür!

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In der Regel können die Bewerber wirklich nichts dafür. Ja, es gibt schlechte und unpassende Bewerbungen. Und ja, „man kann sich auch mehr Mühe geben“. Aber am Ende liegt der Fehler im System!!!! Glauben Sie als Bewerber bitte bitte nicht, dass auf der anderen Seite alles richtig läuft! Das tut es nicht! Punkt! Mit jeder Bewerbung lassen Sie sich auf ein Glücksspiel ein. Ob Sie wollen oder nicht. Wenn Sie das nicht wollen, gehen Sie über konkrete, nachvollziehbare, verlässliche Empfehlungen. Dieser Weg ist auch nicht perfekt, erhöht aber Ihre Chancen. Auch davon kann ich demnächst mal berichten.

Also, sollten Sie aktuell in der Bewerbungsphase befinden: Atmen Sie durch. Suchen Sie den Fehler nicht zum 10. Mal bei sich. Sehr sehr wahrscheinlich liegt es nicht an Ihnen. Sondern am System. Vergessen Sie das Mantra des „richtig bewerben“. Und schütteln Sie nicht den Kopf über „die doofen Recruiter“. Die meisten, die ich kenne, machen einen guten Job. Oder versuchen es zumindest. Manchen fehlt die Erfahrung, der breitere Horizont, aber den meisten schlicht das richtige Umfeld. Auch sie sind nur Teil eines Systems, das extrem fehleranfällig ist. Wie ich ganz persönlich mal wieder bewiesen habe.

Und wissen Sie, worüber ich mich jetzt freuen würde? Schreiben Sie doch mal Ihre positiven Erlebnisse (gerne mit Firmennamen) ins Kommentarfeld. Dann fördern wir gleich noch die guten Arbeitgeber, die offensichtlich einen guten Recruitingjob machen. Ich würde mich freuen, wenn da einiges zusammmenkommt 🙂

Ganz herzlichen Gruß – und bis demnächst mit mehr Hintergrundinfos aus dem Alltag eines Recruiters!

Ihr

Henrik Zaborowski