Ich habe gedacht, über Recruiting wäre alles erzählt und alle hätten verstanden, was sich im Recruiting verändern muss. Aber ich muss immer wieder feststellen: Ich habe mich geirrt! Und noch viel schlimmer: Das, was wir gerade im Recruiting sehen scheint ein Spiegelbild unserer aktuellen Wirtschaft und Gesellschaft. Und was ich da sehe, ist nicht gut – weder für die Gegenwart noch für die Zukunft. Es wird Zeit, Verantwortung (für den Arbeitskräftemangel) zu übernehmen und notwendige Veränderungen anzugehen. Ich erkläre in diesem Artikel nochmal, warum.

Wenn Mitarbeiter:innen fehlen, betrifft das uns alle!

Bevor ich auf die Unternehmensebene gehe, möchte ich kurz einen Blick darauf werfen, wie sich unbesetzte Stellen auf unsere Gesellschaft auswirken. Denn meistens denken wir im Recruiting nur daran, dass ein Unternehmen z. B. weniger Umsatz macht, wenn Mitarbeiter:innen fehlen. Das ist richtig, aber erstmal nur ein Problem des betroffenen Unternehmens. Doch ein großflächiger Arbeitskräftemangel hat Einfluss auf unsere Gesellschaft sowie auf den Wirtschaftsstandort Deutschland – und damit auf jede:n Einzelne:n. Je nach Branche haben fehlende Mitarbeiter:innen mehr Auswirkungen, als uns lieb sein kann. Hier ein kleiner Ausschnitt:

  • Ohne Pflegekräfte gibt es niemanden, der/die sich um die wachsende Zahl pflegebedürftiger Personen kümmert. Einzelne Pflegeheime haben bereits einen Aufnahmestopp, weil ihnen Mitarbeiter:innen fehlen oder sich die Aufnahme neuer Patient:innen nicht rechnet.
  • Ohne ausgeruhte Ärztinnen und Ärzte, Intensivpflegekräften, Rettungssanitäter:innen etc. gibt es keine gute Gesundheitsversorgung, keine reibungslosen OPs, keine Nachsorge etc.
  • Ohne Handwerker:innen gibt es keinen Heizungseinbau, keine Wasserinstallation, keine Dämmung, keine Infrastruktur. Oder nur mit sehr langen Wartezeiten zu immer höheren Preisen.
  • Ohne LKW Fahrer:innen, Erntehelfer:innen, Produktionsmitarbeiter:innen und Wareneinräumer:innen gibt es keine Waren in den Supermarktregalen.
  • Ohne Polizei, Feuerwehr, Staatsanwaltschaft, Lehrkräfte oder Verwaltung in den Behörden kann der Staat viele seiner Aufgaben nicht mehr wahrnehmen.

Wir haben oder bekommen also ein massives Problem, das uns alle betrifft. Das ist jetzt eine große Keule, ich gebe es zu. Lässt sich der Arbeitskräftemangel und daraus folgende Probleme noch verändern? Schwierig. Arbeitskräfte, die physisch nicht da sind, können nicht arbeiten.  Lösen können wir das vermutlich nur, in dem wir mehr automatisieren, an SW und KI auslagern – oder indem wir Menschen nach Deutschland holen und sie bei uns integrieren. Das Thema hatte Deutschland ja schon mal (Stichwort „Gastarbeiter“). KI sowie Zuwanderung sind komplexe Themen und polarisieren. Beides erfolgreich umzusetzen, wird dauern und erfordert ein Umdenken. Es wird ein langer Weg, kein Quick Win. Sprich: Erstmal kommen Kosten und Aufwand auf zu, damit es irgendwann besser wird.

Was der Arbeitskräftemangel uns für den Klimawandel lehrt

Das Interessante ist, dass der Arbeitskräftemangel (wie so vieles) lange vorausgesagt wurde. Auch nach Corona und dem Start des Angriffskriegs Russlands lässt sich sagen: Noch ist unsere Wirtschaft nicht zusammengebrochen, auch wenn es Zeichen einer Krise gibt. Noch haben wir einen Arbeitnehmer:innenmarkt – und ich vermute stark, dass das im Großen und Ganzen auch so bleiben wird.

Bevölkerungsentwicklung und Arbeitskräftemangel

Es ist schon seit den 1970er Jahren bekannt, dass mehr Menschen versterben als geboren werden (siehe obiges Bild). Und spätestens seit der Jahrtausendwende wurde dies immer offensichtlicher. Und trotzdem wirken Unternehmen, Behörden und Regierung so, als komme das alles überraschend. Moment mal, das kenne ich doch irgendwo her?! Genau, vom Klimawandel! Der ist auch seit den 1970er Jahren vorhergesagt. Auf Basis von Fakten. Ignoriert haben ihn trotzdem fast alle. Und die meisten tun es selbst jetzt noch, wo im Sommer 2023 Teile Europas in einer Hitze- und Feuerwelle verbrennen und ein paar Wochen später andere Regionen in Regen und Fluten ertrinken. Ich glaube, dass Thema ist für die meisten Menschen zu groß. Es wird in Zukunft heißer und trockener? Die Menschen kaufen sich einen Pool für den Garten. Wir müssen den CO2 Ausstoß senken? Die Menschen kaufen sich schwere SUVs statt Kleinwagen und fliegen wieder in den Urlaub. „Was kann ich schon tun?“ Die gute Nachricht: eine ganze Menge, aber das ist Thema eines anderen Artikels.

Veränderung kostet erstmal und bringt erst mittel- bis langfristig etwas

Diese Kosten erscheinen vielen zu hoch und können soziale Spannungen hervorrufen. Das möchte die Mehrheit der Deutschen nicht, wie der Präsident des Bundesumweltamtes Dirk Messner in diesem FAZ Artikel sagt:

Die Menschen hätten ein hohes Umweltbewusstsein, sagte der Präsident des Bundesumweltamts, Dirk Messner, bei der Vorstellung der Studie. Es gebe das Gefühl, dass dringend gehandelt werden müsse, dieses verbinde sich jedoch mit der Sorge, ob das sozial- und wirtschaftsverträglich geschehen könne. 75 Prozent der befragten Personen befürchten, dass sich durch den umwelt- und klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft Einkommens- und Besitzunterschiede vergrößern würden.

Was man nicht direkt sieht ist, dass die Kosten des Klimawandels mit jedem Tag des Nichtstuns immer größer werden. Die befürchteten Spannungen durch steigende soziale Ungerechtigkeit, kommen erst recht und noch stärker, wenn wir jetzt nicht handeln. Nicht zu handeln ist also keine Option und trotzdem gönnen wir es uns, weiter wenig zu verändern. Oder?

Auch das Recruiting verändert sich – ob wir wollen oder nicht

Und damit sind wir beim Recruiting. Denn obwohl alle Personalabteilungen und Führungskräfte seit Jahren merken, dass Recruiting schwieriger geworden ist, erlebe ich immer noch wenig Bereitschaft, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen. Dabei sind die Fakten klar: Wir haben seit mehreren Jahren einen Arbeitnehmer:innenmarkt – und das wird auch mithilfe des demografischen Wandels auch so bleiben (siehe Bild).

Stellenanzeigen auf Rekord - Recruiting verändert sich

Die Baby Boomers gehen in Rente, es ist weniger Nachwuchs geboren worden – Was seit Jahren ausgerufen wurde, ist jetzt da. Die Folgen eines Arbeitnehmer:innenmarktes dürfen nicht länger ignoriert werden. Wir können den Status Quo nicht bewahren, sondern müssen zur Verfügung stehende Lösungsansätze nutzen ohne Angst vor scheinbaren Konsequenzen.

Ein paar realisierbare Maßnahmen gegen den Arbeitskräftemangel:

  • Ich warte nicht mehr auf „Mr./Mrs. Perfect“, sondern überlege mir welche Skills, welche Fachkenntnisse, welche Erfahrungen werden wirklich sofort benötigt und welche lassen sich trainieren? Angst: Wer die „noch nicht zu 100% passenden“ Kandidat:innen einstellt, muss Zeit und Geld in Training und Personalentwicklung investieren. 
  • Schnelle Prozesse sind nötig, weil Bewerber:innen oft mehrere Jobangebote parallel laufen haben und es nicht mehr nötig haben, mehrere Wochen auf eine Entscheidung zu warten. Recruiting zu priorisieren bedeutet, notfalls andere Termine zu verschieben, um einen Slot für Bewerbungsgespräche frei zu haben. Damit bleibt anderes liegen.
  • Gehaltsforderungen steigen: Wenn Bewerber:innen mehrere Angebote haben oder täglich Jobangebote bekommen, dann wissen sie, dass sie am Markt gefragt sind. Und es gibt immer ein Unternehmen, das mehr bietet. Das gilt nicht für alle Bewerber:innen aber mehrheitlich ist das so und entspricht auch unserem liberalen Marktverständnis: Die Nachfrage bestimmt den Preis. Wer als Arbeitgeber bisher mit niedrigen Gehälter klar gekommen ist, muss sich darüber Gedanken machen, wie er das in Zukunft löst.
  • Home Office vs. Präsenz: Viele Arbeitgeber holen ihre Mitarbeiter:innen wieder pauschal mehr ins Büro. Manche Mitarbeiter:innen wollen das, manche nicht. Wer seine Mitarbeiter:innen mehrere Tage die Woche im Büro sehen will, der kann nur Menschen einstellen, die im Umkreis wohnen. Pauschal auf die Anwesenheitspflicht zu pochen, immer und für alle, wird für die allermeisten Unternehmen in Zukunft nicht mehr funktionieren.
  • Damit Mitarbeiter:innen zumindest ein paar Jahre bleiben, müssen sie sich wohlfühlen. Eine Unternehmenskultur, die von Angst und Druck geprägt ist, wo Versprechungen nicht gehalten werden, wo Überstunden selbstverständlich sind und Wertschätzung nicht – da möchte bald niemand mehr arbeiten. Viele werden sich den Arbeitgeber aussuchen können, bei dem sie sich wohlfühlen und werden gehen, wenn das nicht mehr der Fall ist.

Es ist Zeit für Veränderung – Jetzt!

Ich nehme in meinem Netzwerk aktuell vieles wahr, aber keinen Fokus auf Recruiting. Ein paar alltägliche Beispiele:

  • unrealistische Anforderungen
  • Bewerbungen, die nicht zeitnah bearbeitet werden
  • unklare Prozesse und Zuständigkeiten
  • Urlaubsvertretungen, die nichts entscheiden können/dürfen
  • Kandidat:innen, die 8 Wochen auf ein Zweitgespräch warten
  • Angebote, die nicht das enthalten, was im Gespräch versprochen wurde

Zu viele deutsche Unternehmen bleiben bei ihrem Status Quo und wundern sich, warum sie ihre Positionen nicht besetzen.  Klar, die Zukunft lässt sich nie voraussagen, aber die Prognosen hinsichtlich Arbeitskräftemangel und Klimawandel haben ja schon mal gepasst. Es wäre fahrlässig, das weiter zu ignorieren.

Wenn Du etwas in Deinem Recruiting verändern möchtest, aber noch nicht so richtig weißt, was und wie, dann melde Dich gerne bei uns. 🙂 Und auch ohne uns wünsche ich Dir natürlich viel Erfolg, Deine Herausforderungen im Recruiting anzugehen.

Herzlichen Gruß,
Henrik